#19

7 2 0
                                    

Sollte sie ihm sagen, dass sie den ganzen Tag nach ihm gesucht hatte? Und wie glücklich sie nun war, ihn zu sehen, nach drei Tagen Funkstille? Für diese Überlegung benötigte sie aufgrund der Überraschung, die Lynne mit großen Augen im Gesicht geschrieben stand, viel zu lange, weshalb sie sich beide mehrere Sekunden wortlos gegenüber standen. Kade hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, wo sie sich unruhig bewegten, doch ansonsten schien auch er keine großen Anstalten machen zu wollen, irgendetwas gegen die peinliche Stille zu unternehmen.
„Hi", brachte Lynne schließlich heraus, ohne ihren Ausdruck zu verändern.
„Hi", erwiderte er, schien allerdings nicht weniger verlegen. „Ich... ich wollte zu dir... offensichtlich"
Lynne befreite sich aus ihrer Trance und öffnete ihnen mit beinahe hektischen Bewegungen die Tür. Schon beim Treppensteigen begann sie einen innerlichen Konflikt zu führen, warum sie ihn denn so doof angestarrt hatte und die Situation somit noch unangenehmer machen musste, als sie es ohnehin schon war. Dies war nun schon das zweite Mal, dass sie sich nach einer Auseinandersetzung mehrere Tage nicht und dann überraschenderweise wieder getroffen haben und sie schien aus dem ersten Mal nichts gelernt zu haben.

Bis in die Küche zögerten sie das Reden hinaus. Dort angekommen fragte Lynne ihn, ob er etwas trinken möchte.
„Nein, geht schon", lehnte Kade ab und stützte sich mit den Armen an einem Stuhl hinter ihm ab.
Lynne drehte sich dennoch zur Küchenzeile und schenkte sich selbst ein Glas ein, da sie plötzliche Trockenheit im Hals verspürte und um etwas zu tun zu haben, sollten sie weiter Schweigen.
Sie schlug vor in ihr Zimmer zu gehen, da es dort gemütlicher war und dies auch der Raum war in dem beide bereits mehrere Hemmschwellen überwunden hatten.
Sie schloss die Tür hinter ihnen, was irrelevant war, da sie schließlich allein in der Wohnung waren. Doch die geschlossene Tür gab ihr ein gewisses Gefühl von Intimität und Vertrauen. „Also...", überwand Lynne sich und drehte sich mit dem Wasserglas in ihren zittrigen Händen zu Kade um, „ich muss schon sagen, das hier ist gerade... ziemlich peinlich" Kades Miene blieb unverändert neutral, doch die Position, die er auf dem Sofa eingenommen hatte, war locker. Vielleicht hatte sie sich Zustimmung erhofft, doch er schien nun einfach froh zu sein, dass Lynne ihre beider Gedanken endlich aussprach und er sie reden lassen wollte. „Deshalb...", sie setzte sich neben ihn, stellte ihr Glas ab und atmete aus, bevor sie weitersprach, „sag ich jetzt einfach, dass –" „– es mir leid tut, dass ich so ausgerastet bin", fiel er ihr ins Wort.
„So etwas ähnliches wollte ich gerade sagen, aber okay", meinte sie und überspielte ihr Ärgernis über das gestohlene Satzende mit einem erleichterten Lächeln.
„Es tut mir aber wirklich leid, Lynne" Kade wandte sich ab, vergrub die Hände in den Haaren und schaute zu Boden. „Ich bin bei solchen Dingen immer derjenige, der alles versaut" Er schien über etwas nachzudenken; vermutlich etwas, das diese Annahme bestärkte.
„Nein, ganz und gar nicht", stritt sie ab und legte ihre Hand unwillkürlich auf seinen Rücken. „Ich hätte meinen Dad davon abhalten sollen, so eine Scheiße zu erzählen. Und ich hätte dich nicht anschreien sollen, wegen deinem Krankheits-..." Sie griff sich selbst an die Stirn, da sie das Tabuthema erneut beim Namen genannt hatte. „Gott, ich hatte die ganze Woche solche Schuldgefühle"
„Nein, ich bin hier der Arsch. Du hattest Recht, als du sagtest, ich würde auf die vertrauen, die mich..." Er schien nach einem passenden Wort zu suchen und atmete dabei tief durch. „...nein, ich war es, der sie betrogen hat"
„Nein, sag sowas nicht", meinte Lynne verzweifelt, da diese Versöhnung in eine ganz andere Richtung als erhofft abdriftete. Sie berührte ihn nun am Oberschenkel, wobei sie erst jetzt bemerkte, wie eng beieinander sie die ganze Zeit schon saßen.
Er sah wieder auf, sie allerdings nicht an. Sehnsüchtig versuchte sie in sein Sichtfeld zu gelangen und lehnte sich ein bisschen nach vorne, doch er schaute weiterhin gerade nach vorne. Die Traurigkeit und Erschrockenheit über eine Erkenntnis, zu der er scheinbar gerade gekommen war, machten sie sogar noch verzweifelter. Kade an einen Tiefpunkt zu bringen war das genaue Gegenteil von dem, was sie erreichen wollte. Sie fürchtete, es schon wieder vermasselt zu haben und wollte alles dagegen tun, dass er nicht wieder aufsprang und sie verließ.
„Ich glaube, ich hab die ganze Scheiße einfach verdient...", stellte er mit leiser Stimme fest und senkte den Kopf endlich zur Seite, um Lynne anzusehen.
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf, um ihm zu signalisieren, dass sie es nicht erträgt, ihn so über sich reden zu hören. Das Kopfschütteln wurde etwas heftiger, als sie sich näher an ihn heranbewegte, ihre Bewegungen wurden aber von seinem Atem, den sie auf ihrer sensiblen Haut spürte, eingebremst. Noch bevor sie realisieren konnte, dass er seinen Kopf ebenfalls näher zu ihrem neigte, trafen ihre Lippen bereits aufeinander, was einen Impuls freisetzte, der all ihre Denkprozesse lahmlegen zu schien.
Kade hob eine Hand an ihren Hinterkopf, während Lynne ihre vom Oberschenkel zurück auf sein Schulterblatt wandern ließ. Ohne sich voneinander zu lösen standen sie auf, wobei Kade sich, obwohl er sanft ihren Kopf ein bisschen nach oben drückte, zu ihr runterbücken musste.
In einem kurzen Moment, in dem sie es schafften den Kuss zu unterbrechen, nutzte Lynne die Gelegenheit einen letzten Gedanken zu äußern, um sich danach wieder voll und ganz auf ihn zu konzentrieren.
„Du hast nichts falsch gemacht", flüsterte sie atemlos in seinen Mund hinein, der sich kurz zu einem Lächeln formte, bevor er wieder mit dem ihrigen zusammenfand.
Keinem der beiden war klar gewesen, wie sehr sie auf diesen Moment gewartet und gehofft hatten, bis zu dessen Eintreten. Die Dauer eines Momentes war allgemein umstritten, weshalb sie sich entschieden, diesen schier endlos andauern zu lassen.
Blind taste Lynne an seinem Körper hinab, über Arme und Oberkörper. Die Suche nach dem Reißverschluss seines Sweatshirts und das Aufziehen dessen erwiesen sich als äußert mühsam, da sie ihre gesamte Energie dafür einsetzte aufrecht stehen zu bleiben und ihre Lippen auf den seinen zu halten. Doch Kade verstand die Geste und half ihr, indem er sich die Jacke ebenfalls ohne hinzusehen abstreifte und auf den Boden fallen ließ.

an unalike romeo and juliet storyWhere stories live. Discover now