Dessert und Erkenntnis

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Mycroft Holmes hatte sich in eine Lage hinein manövriert, die für ihn nicht ganz einfach war, und er hatte keine Ahnung, wie es so schnell dazu hatte kommen können.
Gestern erst hatte er Detektive Inspector Gregory Lestrade kennen gelernt und heute nun saß er hier, in seinem Lieblingsrestaurant dem Mann gegenüber und kämpfte mit äußerst unerwarteten Reaktionen seines Körpers.
Sein Herz klopfte jedes mal schneller, wenn der Mann lächelte. Ihm wurde warm, wenn der Blick aus diesen warmen Augen von der Farbe geschmolzener Schokolade ihn traf.

Doch nicht nur das. Die Art und Weise, wie Gregory das köstliche Essen genoss, ging Mycroft unter die Haut. Wie Greg genießerisch die Augen schloss. Wie er sich die Lippen leckte ... diese Zunge, Oh Gott, diese kleine, flinke Zunge.
Und die Geräusche des Wohlbehagens, die er dabei von sich gab, Herr Gott, die waren so erotisch, man sollte sie unter Strafe stellen.

Er, Mycroft Holmes, der eiskalte Politiker, der gewiefte Diplomat, war dem Charme des Gregory Lestrade hilflos ausgeliefert.
Und das hatte ihn zutiefst überrumpelt.
So etwas passierte ihm einfach nicht. Er war jederzeit Herr der Lage, er ließ sich nie von Gefühlen beherrschen, er war derjenige, der bei einem Gespräch oder Treffen die Richtung bestimmte, der immer die Antworten bekam, die er haben wollte, die Reaktionen hervorrief, die er wünschte.
Und nun saß er hier, und hatte der Ausstrahlung dieses einfachen Mannes vor ihm nichts entgegenzusetzen.

Hinzu kam, dass jedes Wort, das sie wechselten, ihm zeigte, dass Gregory nicht nur ein äußerst attraktiver Mann war, sondern auch alles andere als dumm. Er entstammte einfachen Verhältnissen und hatte sich seine Stellung als DI selbst erarbeitet durch unermüdlichen Fleiß und Geschick, er war gebildet und von scharfem Verstand. Natürlich kam er nicht an den Intellekt eines Mycroft Holmes oder selbst eines Sherlock heran, doch das kam niemand, um ehrlich zu sein.
Außerdem war er immerhin der Mann, der in der Lage war, mit Sherlock zu arbeiten. Sherlock nicht nur zu ertragen, ohne dabei komplett irrsinnig zu werden, sondern ihm sogar Grenzen zu setzen, seinen Respekt zu gewinnen und seinen übermäßig klugen Kopf fruchtbringend zu nutzen.
Und das allein musste einem schon Achtung abringen, denn Sherlock war schlichtweg die Pest auf Beinen.

Mycroft wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der Blick des anderen Mannes fragend auf ihm ruhte.
„Es scheint sie ja zu amüsieren, dass mir das Essen so gut schmeckt?", fragte Lestrade und lächelte ihn an.
Mycroft errötete erneut.
„Ich ... verzeihen Sie ..."
Himmel, warum benahm er sich wie ein stotternder Teenager? Wenn seine Untergebenen im Büro ihn so sehen könnten! Nun, das verhüte dieser und jener!
Gregory lachte und zeigte auf Mycrofts Teller.
„Sie sollten Ihr Mal darüber nicht kalt werden lassen, es ist wirklich köstlich!"
Mycroft schluckte. Das Lachen des anderen war einfach wunderschön, es fühlte sich an wie perlender Wein.
„Sie haben recht", sagte er und wandte sich dem in der Tat perfekten Osso bucco zu.

Als sie das Hauptgericht beendet hatten, wurde flink abgeräumt und der Ober trat an ihren Tisch heran.
„Wünschen die Herrschaften ein Dessert?"
Mycroft wollte ablehnen, immerhin musste er auf seine Linie achten. Doch Gregorys Augen blitzten, und so bat Mycroft um die Dessert-Karte.
Gregory jedoch hielt den Ober zurück.
„Sagen Sie, kann ich bitte Panna cotta bekommen? Die habe ich seit Kindertagen nicht mehr gegessen, und damals habe ich sie geliebt ..." Er wurde ein klein wenig rot um die Nase.
„Selbstverständlich, Sir", sagte der Ober und wandte sich Mycroft zu.
„Für Sie auch, Sir?"
Mycroft zögerte einen winzigen Augenblick, sagte dann jedoch:
„Nein, danke, für mich bitte nur einen Espresso."

„Ist es überhaupt in Ordnung, dass ich noch ein Dessert bestellt habe?", fragte Gregory etwas verlegen, nachdem der Ober wieder verschwunden war.
„Natürlich", sagte Mycroft. „Ich habe Sie zum Essen eingeladen, und ich möchte, dass Sie als mein Gast den Abend bis ins kleinste genießen."
„Nun ja", erwiderte Gregory, „wenn man es recht bedenkt, ist es ja eigentlich eher ein geschäftliches Treffen, nicht wahr? Immerhin geht es um Informationen bezüglich Sherlock!"
„Technisch gesehen ist es das wohl", sagte Mycroft. „Und doch denke ich, dass man auch bei einem Geschäftsessen den Genuss nicht unbedingt hintanstellen muss, meinen Sie nicht auch?"
„Da haben Sie vollkommen recht", stimmte Gregory zu.
Und da in diesem Augenblick das Dessert und der Espresso kamen, vertagten sie das Gesprächsthema Sherlock noch einmal.

„Vielleicht", sagte Mycroft, „möchten Sie mir ein wenig von sich erzählen? Von Ihrer Familie? Wo sie herkommen? Sie sind nicht gebürtig aus London, nicht wahr?"
„Brighton", sagte Greg, „dort bin ich aufgewachsen. Aber ich lebe schon ewig hier. Eltern sind schon gestorben, zwei Geschwister, die leben in Brighton und in Übersee. Zwei gescheiterte Ehen nun ja."
Eine kleine dunkle Wolke zog über sein Gesicht.
„Das letzte Mal erst kürzlich. Sie hat mich betrogen. Sherlock wusste es eher als ich."
Er schluckte und Mycroft spürte, dass das ihm noch sehr nahe ging. War ja auch kein Wunder.
„Und das erste mal ... wir waren zehn Jahre zusammen gewesen. Natürlich nicht verheiratet, das ging damals noch nicht, aber wegen der langen Zeit nenne ich es immer meine erste Ehe ... zehn Jahre sind immerhin kein Pappenstiel ... na ja, jedenfalls hatte auch er sich damals nach was anderem umgeschaut, ohne mich mit dieser Information zu behelligen."
Greg schniefte.

Mycroft jedoch blieb bei einem Wort hängen.
„Er." Gregory hatte „er" gesagt. Ein Mann.
Das hieß, das Gregory mit einem Mann zusammen gewesen war. Das also eine romantische und sexuelle Beziehung zu einem Mann für ihn nichts neues und schon gar nichts abstoßendes war.
Dass also er, Mycroft, vielleicht Chancen hatte auf ...
Aber wollte er das denn überhaupt?

Natürlich nicht!
Eine so geartete Beziehung zu einem anderen Menschen war eine Schwäche! Ein Schwachpunkt, der einen für Verletzungen und Angriffe anfällig machte! Wenn man nur auf sich allein gestellt war, konnte man sich vor derlei schützen ...

Humbug.
Natürlich wollte er das.
Er wollte einen Beziehung mit diesem Mann, den er erst sein gestern wirklich kannte.
Und die Erkenntnis, die ihn dann traf, erwischte ihn mit voller Wucht, so dass er sich an seinem heißen Espresso verschluckte:
Er, Mycroft Holmes, hatte sich Hals über Kopf in Gregory Lestrade verliebt!

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