Kapitel 11

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Ich stehe ebenfalls auf, werde von Jesse aber schnell wieder auf den Stuhl gedrückt. "Oh nein! Du bleibst hier sitzen und ruhst dich aus!" knurrt er und ich stehe wieder auf. "Ich werde das machen, wofür ich ausgebildet wurde. Und ich werde mich beweisen. Wenn ich hier bleiben soll, dann brauche ich den Respekt. Und nicht nur, weil ich deine Schwester bin und meine Vergangenheit verfickt beschissen war! Ich will meinen eigenen. Man soll MICH respektieren. Und nicht meiner Vergangenheit und Familie wegen." Mein Bruder zögert einen Augenblick, geht dann aber seufzend einen Schritt zurück. "Belaste deinen linken Arm wenigstens nicht!" murrt er und ich nicke. Dann sehe ich zu Ana, die geduldig gewartet hat. Diese nickt mir ernst zu, geht an mir vorbei und ich folge ihr.

"Nichts gegen dich kleine. Aber das kommt mir dann doch wie humbug vor! Mit einer Pistole einen Scharfschützen erledigen... Das hat noch nie jemand geschafft, ausser er stand in der richtigen Reichweite HINTER dem Schützen!" Ich lächle und gehe neben ihr. Mein Blick geht nach vorn. "Meinen vollsten Respekt dafür, dass du selbst Scharfschützin bist! Aber ich habe das nicht zum ersten mal gemacht." Ich sehe sie nun aus dem Augenwinkel an und sie beobachtet mich. "Wie kommst du darauf, dass ich Scharfschützin bin?" Ich sehe wieder lächelnd nach vorn. "Die Augen." antworte ich und kann sehen, dass sie ebenfalls das lächeln anfängt. "Meine Augen?" Ich nicke. "Jeder Scharfschütze sieht sich zuerst das Terrain an. Wenn er das kennt, fällt ihm jede winzigkeit auf, die nicht da rein passt und analysiert es auf die ganz eigene Art und weise."

Ana fängt an zu lachen und wir treten nach mehreren Richtungwechsel nach draussen. "Ich wusste nicht, dass man jemanden so schnell identifizieren kann!" meint sie amüsiert und ich zucke mit der Schulter. "Das lernt man alles, wenn man in meiner Branche tätig ist. Menschen lesen, analysieren und nach gefahrenstufe einordnen." Ana nickt und zeigt mir dann das Trainingsgelände. Hier ist es überraschenderweise grün und nicht staubig und ich fühle mich nicht so wohl. Kurz sieht sie sich um, bevor sie mich wieder ansieht. "Bleib hier stehen und ich werde etwas testen. Wir werden den Zwischenfall heute simulieren! Kannst du mir alles genauestens erzählen?" Ich nicke und tue dies.

Bei jedem Fakt nickt Ana stumm und ich erzähle ihr alles bis auf das kleinste Detail. "Gut... Wir werden das nachstellen! Aber ich werde nicht aus der gleichen richtung schießen und ich werde dich nicht abschießen! Ausserdem werde ich mich sofort wegrollen und einen Dummy aufstellen, damit du, wenn du wirklich treffen solltest, nicht mich erschießt. Und entleere auch das Magazin!" Ich nicke und drehe mich um, sodass Ana genügend Zeit hat, sich zu verstecken. Langsam hole nehme die die Beretta an der linken Seite, hole das volle Magazin heraus und tausche es mit dem leeren Magazin meiner rechten Beretta. Ich bin in der hinsicht etwas eigen. Jede Beretta hat eine bestimmte Hand und ich kann nicht mit der anderen schießen. Komisch, aber eine kleine Macke. Als ich fertig bin, schließe ich meine Augen und entspanne mich. Höre nur auf die Umgebung und weiß, dass uns und vor allem mir alle Leute zusehen. Aber das ist mir egal.

Plötzlich höre ich das typische 'peng', wenn eine Kugel auftrifft, abprallt und zum querschläger wird. Ich kann anhand der Spur des hinterlassenen Projektils am Boden erkennen, aus welcher richtung der Schuss kam. Der Einschusswinkel gibt mir die Höhe und Flugbahn der Kugel an und ich sehe in die Richtung. In meinem Kopf wird alles sofort berechnet und ich hebe meinen Kopf. Die Berechnung lässt nur eine Position zu und ich sehe dort hin. Mein Blick wird kalt und alles wird ruhig. Auch, wenn der zweite Schuss an meinem Kopf vorbei geht. Ich bleibe ruhig stehen und zucke nicht einmal mit der Wimper. Alles was im moment für mich existiert ist das Ziel, dass ich eliminieren muss.

Ich hebe meine Beretta und ziele. Auch hier hält Ana das timing ein und schießt knapp an meiner Schulter vorbei. Dann reisse ich die Augen auf und fokussiere den Punkt, den sie mir nun durch diesen Schuss komplett verraten hat. Durch Kimme und Korn blicke ich einen moment, bevor ich das gesamte Magazin verballere. Schuss für Schuss knallt los und die Patronen werden nur schnell aus der Kammer geschmissen, bevor die nächste Kugel geladen wird und sofort zum Abschuss bereit ist. Meine Ohren klingeln wieder und ich schieße, bis ich ein 'klick' höre und weiß, dass das gesamte Magazin leer ist. Erst dann lasse ich meine Beretta wieder sinken und schließe meine Augen. Atme tief durch und stecke die Pistole wieder in das Holster.

Ich warte auf Ana, die sich Zeit lässt und nach einiger weile endlich zu mir kommt. In der Hand den Dummy, den sie aber verdeckt hat. Sie sieht mich kurz an, bevor sie stumm vor mir stehen bleibt. Ihre Blicke sind musternd und sie versucht, mich neu einzuschätzen. Hinter mir kommen die anderen hervor und sehen neugierig auf den verhüllten Dummy. "Komm schon Ana! Mach es nicht so spannend!" ruft Tracer und spricht somit das aus, was wir alle gedacht haben. Ana kneift noch einmal die Augen zusammen, bevor sie den Dummy vor sich hält und das weiße Tuch mit einem Ruck hinunter zieht.

Sie enthüllt einen Dummy, dessen komplette Gesichtspartie zerfetzt ist. Wäre das ein gegner, wäre von seinem Kopf nicht mehr viel übrig. Der Dummy besteht aus einem komischen Gelee, dass die Kugeln innendrinn sichtbar macht. Alle sind gesammelt auf einem Punkt. Ich sehe ihr in die Augen. "Wie weit?" frage ich und sie ist noch für einen kurzen Augenblick still, bevor sie antwortet. "Etwa 250 Meter." meint sie und ich nicke. Bin froh, dass die Demonstration etwas gebracht hat und ich nicht mit Schmach hier stehen muss. Da spüre ich eine Hand auf meinem Kopf. "Du gehst jetzt rein und wäschst dich! Deinen Respekt hast du dir verdient! Und jetzt ab!" murrt Jesse und ich sehe ihn genervt an. "Ja Dad!" erwiedere ich in demselben patzigen Ton und bekomme einen strengen Blick von ihm. "Spricht man so mit seinem großen Bruder?" fragt er und ich strecke ihm die Zunge raus. "Ich schon!"

Der kleine TodesengelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt