Kapitel 8 (5)

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Seine Worte tun ein bisschen weh, aber seine Augen sind so voller leid, dass ich nicht weiter nachfragen möchte. Ich schlinge meine Arme um ihn und halte ihn fest, so fest ich kann. Es fühlt sich einfach richtig an, in seinen Armen zu liegen. Seine Welt kann noch so verrückt sein, bei ihm fühle ich mich sicher und normal. Wie der normalste Mensch auf Erden. Vor welcher unangenehmen Wahrheit er mich auch beschützen will, sie wird mir nichts tun, solange er bei mir ist. „Hey", sagt er. Ich spüre seine Lippen an meinem Ohr und schaudere. „Siehst du den Falter an der Scheibe?"

Ich öffne meine Augen und sehe rüber zum Fenster. Ein braungrauer Nachtfalter sitzt unbewegt an der Scheibe mitten im Sonnenlicht.

„Ungewöhnlich", stelle ich fest.

„Mach nochmal die Augen zu."

Ich gehorche ihm.

„Mach sie wieder auf."

Ich sehe gerade noch wie der Falter hinter meinen Schrank flattert. Ich sehe ihn mit meinen eigenen Augen, aber ich kann es nicht glauben. Das Fenster ist zu und Lyel ist nicht aufgestanden. Mir fallen keine Worte ein.

„Warum sagst du nichts?", fragt er.

„Mach das nochmal. Ich will es sehen."

Er dreht sich zu mir, bis unsere Gesichter ganz nah beieinander sind. „Du kannst es nicht sehen. Du kannst nur das sehen, was für dich Sinn ergibt. Das unterscheidet uns."

„Das heißt du siehst...?

„Dinge, die du nicht für möglich halten würdest. Wir nennen es das Auge. Hier, trink noch ein bisschen was." Er reicht mir das Wasserglas. Ich nehme einen Schluck, dann noch einen. „Ich glaube ich beginne zu verstehen."

„Was?"

„Dass deine Familie die Menschen meidet. Sie würden euch nicht glauben."

„Aber du glaubst uns."

Ich nicke träge. „Ich habe viel Seltsameres in meinen Koma-Träumen gesehen. Zum Beispiel Elfen. Kleine, glühende Elfen. Sie haben mich immer zum Licht geführt, mir die Angst genommen." Meine Gedanken schweifen davon. Plötzlich bin ich so müde. So verdammt müde. „Hast du mir die Schlaftropfen gegeben?"

„Möglicherweise", raunt er in mein Ohr.

„Das war unfair."

Er streichelt mein Haar. „Du brauchst eine Pause."

Ich schließe meine Augen und lasse mich davon treiben in einen tiefen Schlaf, frei von Träumen.

In den ersten Wochen nach dem Aufwachen litt ich unter Schlafstörungen. Ich hatte Angst, nicht mehr aufzuwachen. Das Schlafmittel brachte mir den nötigen Schlaf, nahm mir aber meine Angst nicht.

Aber jetzt habe ich keine Angst.

Zu sich zu kommen nach einem so tiefen Schlaf fühlt sich an wie aus dem Koma zu erwachen. Für einen langen Moment weiß man nicht wo man ist und wer man ist. Dann kommt schleichend alles zurück, aber man fühlt sich ausgelaugt und benommen.

Ich sehe auf den Funkwecker. Es ist schon morgen. Ich habe eine Ewigkeit geschlafen. Ich drehe mich auf die andere Seite und mein Herz macht einen entzückten Sprung. Lyel ist noch da. Er liegt neben mir, samt Schuhen, und hat die Augen friedlich geschlossen und den Mund leicht geöffnet. Er muss die ganze Zeit bei mir geblieben und irgendwann selbst eingenickt sein. Seine Hände liegen nebeneinander auf seinem Bauch. Ich wundere mich, dass meine Eltern ihn nicht geweckt und nach Hause geschickt haben. Dann sehe ich wie zufrieden er aussieht. Mein Herz klopft schneller bei diesem Anblick. 

Ich lehne mich über seine entspannten Gesichtszüge und präge sie mir ganz fest ein. Die Linie seiner Lippen, der sanfte Schwung seiner Augenbrauen und die Länge seiner dichten Wimpern. Ich beuge mich tiefer, angezogen von diesen wunderschönen Details. Mein Haar streift seine Wange und er öffnet alarmiert seine Augen.

„Sorry", flüstere ich und lächle.

Einen Augenblick sieht er mir einfach in die Augen und dann, mit dem Senken seines Blickes, breitet sich Schock in seinem Körper aus. Er weicht hektisch zurück, die Augen weit aufgerissen. Er keucht. Irgendetwas raubt ihm den Atem, aber ich weiß nicht was. Nichts in meinem Zimmer ist verändert, aber er ist so blass, als hätte er einen Geist gesehen. Seine Reaktion bereitet mir Sorgen. „Lyel? Was ist?"

„Wo kommt das Blut her?", keucht er.

Ich verstehe nicht. „Welches Blut?"

Er fährt mit den Handflächen über das Bettlaken, dann hält er inne.

Ich sehe ihn verängstigt an. „Lyel?"

„Es ist weg."

„Es war nie da." Ich setze mich auf. „Was hast du gesehen?"

„Das Bett. Es war voller Blut. Und du auch."

Ich greife nach seiner Hand. Sie ist kalt. „Vielleicht bist du krank." Er schnaubt und zieht sie zurück. „Nein. Das war eine Warnung." Ich wünschte er würde mich ansehen, aber er hat mir den Rücken zugewandt. „Von wem?", frage ich aufgewühlt.

Er steht auf.

„Was bedeutet sie? Wird Felix es noch einmal probieren?" Ich werde immer lauter, weil er mich nicht ansieht, weil ich nur seinen blöden Rücken sehen kann. „Will er mich umbringen?"

Ich kämpfe mich energisch aus dem Laken, das mich wie Fesseln umschlingt. Wann habe ich mich so darin eingewickelt?

„Lyel! Will Felix mich töten?"

Er bleibt stehen, direkt vor der Tür. Seine Hand liegt bereits am Türknauf. „Es ist nicht Felix!", sagt er ebenso aufgebracht wie ich mich fühle, „du bist es. Du hast dir das angetan."

Er reißt die Tür auf und geht. 

Mir sind die Worte verloren gegangen, für einen Moment bin ich völlig leer, während ich versuche zu begreifen, was er da gerade gesagt hat. Warum um alles in der Welt sollte ich das tun? Warum sollte ich ihm das antun?

Verzweiflung macht sich in mir breit. Ich kann es nicht glauben, niemals würde ich mir so das Leben nehmen, nicht nachdem ich es mit so viel Mühe zurückbekommen habe. Ich würde niemals das Leben beenden, das ich mit ihm habe. Das ist falsch, absolut falsch.

Felix muss dahinter stecken. Er will mich nicht an Lyels Seite. Er ist skrupellos genug, seinen Bruder leiden zu lassen.

Ich steige aus dem Bett und ziehe mich eilig um. Ich greife das erstbeste Shirt, das ich im Schrank finde, ziehe das Haargummi aus meinem Haar und lasse es über meine Schultern fallen. Dann laufe ich nach unten. Ich habe Glück. Dad sitzt noch am Frühstückstisch und liest Zeitung. Sein Haar ist an einer Seite platt gedrückt.

„Dad?"

Er sieht auf und zwinkert. „Morgen Sonnenschein."

„Darf ich mit deinem Auto zur Therapie fahren?"

Er klappt die Zeitung zusammen. „Kannst du das bitte nochmal wiederholen, ich glaube ich habe mich verhört."

Ich setzte mich neben ihn. „Ich bin gestern gefahren, mit Lyel. Das hat gut geklappt."

Sein Gesichtsausdruck ist unbezahlbar. 

EYES OPEN - Die Farben der GerechtigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt