Kapitel 10 (3)

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Lyel geht in die Hocke und greift nach dem Richtschwert. „Du machst es mir sehr sehr einfach."

Felix lacht. „Die Liebe macht dich zu einem Sklaven. Du bist weich und unschlüssig."

Lyel hebt das Schwert und geht auf seinen Bruder zu. Unter der Augenbinde sind seine Gesichtszüge angespannt vor Wut. „Ich werde dich für deine Taten bestrafen, koste es deinen Tod."

„Warte Lyel!", rufe ich, „denk doch mal nach!"

Er hält nicht an. „Er verdient es zu sterben!"

Ich will, dass er stehenbleibt. „Das ist genau das, was er will!" Das Schwert blitzt in der Sonne, als er weitergeht.

„Na los!", brüllt Felix, „durchbohre mich mir deinem Schwert, sodass ich blute wie sie geblutet hat. Geb mir den gleichen Schmerz!"

Ich schaffe es endlich meine Füße zu lösen und laufe los. Meine Absätze klacken laut auf dem Stein. Es ist rutschiger, als ich erwartet habe. Ich stelle mich vor Felix und bete, dass Lyel es sieht, bevor die Schwertspitze in meine Brust sticht. „Du sollst ihn töten, weil du Blutrot wählen sollst! Er will dich nicht an die Ewigweißen verlieren, Lyel! Aber du bist kein Mörder! Du bist gnädig und gut und fähig zu lieben!"

Er kommt mir immer näher.

„Nicht! Du triffst die falsche Entscheidung!"

Ich halte die Luft an, weil er genau vor mir steht, das Schwert blind auf meine Brust gerichtet.

„Dein Bruder liebt dich zu sehr, um dich zu verlieren, Lyel."

Für einen Moment ist es vollkommen still. Dann lässt er das Schwert sinken.

„Stimmt das?", fragt er laut. Es ist vollkommen still im Saal.

„Du hättest niemals mich gewählt!", schreit Felix. „Egal wie schlimm das Vergehen auch gewesen wäre, du hättest dich niemals für deine Familie entschieden! Deswegen musste sie durch mich leiden, denn nur das würde dich wütend genug machen um das Schwert zu schwingen!"

Lyel fällt erschöpft auf die Knie. Seine Brust hebt und senkt sich heftig.

„Ich wollte, dass wir zusammenbleiben", fährt Felix niedergeschlagen fort, „zusammen für die gerechte Strafe. Aber dann kommt dieses Mädchen und überzeugt dich vom Gegenteil mit ihrer verfluchten Liebe."

Lyel hebt den Kopf und ich habe das Gefühl, dass er mir direkt in die Augen sieht. „Ich liebe sie. Und ich habe ihr versprochen Gnade zu wählen."

Mein Herz wird leichter.

„Und es tut mir so leid, was du ihr angetan hast. Aber nichts auf dieser Welt, auf meiner oder ihrer, kann meine Gefühle für sie ändern. Ich liebe auch die Narben, die du ihr zugefügt hast, Bruder." Seine Ohren zittern. „Wenn du mich wirklich so liebst, dann weißt du, dass ich Ewigweiß bin. Schon immer."

Felix zieht wild an seinen Ketten, aber Lyel erhebt sich wieder. „Ich lasse dich begnadigen, obwohl deine Taten unverzeihlich sind."

Ich trete zur Seite, bereit, Lyel die richtige Entscheidung treffen zu lassen.

„Warum beschützt du mich vor dem Schwert, Carla?", ruft Felix unglücklich. Die Verletzlichkeit in seinen Augen trifft mich völlig unvorbereitet. „Warum lässt du mich nicht leiden?"

„Weil du den Tod nicht verdienst! Hättest du mich damals nicht ausgewählt, hätte ich deinen Bruder nie kennengelernt", antworte ich.

Lyel geht die Stufen zu seinem Bruder hinauf, bis er vor ihm steht. Sie sehen sich blind in die Augen.

„Lass mich noch ein Wort sagen, bevor du das tust", sagt Felix. Er beugt seinen Kopf nach vorn, bis er nah genug ist, um Lyel ins Ohr zu flüstern. Ich wüsste zu gerne, was er ihm sagt. Lyel tritt langsam zurück. Seine Gesichtszüge sind unergründlich.

Er dreht sich zu den Zuschauerrängen. „Heute treffe ich meine Entscheidung im Namen der Gerechtigkeit. Ich lege mein Wort auf die Waagschale der Gnade. Möge sie auf immer mein Gewicht tragen um den Menschen eine zweite Chance zu geben und sie ihre Schuld begleichen zu lassen."

Er dreht sich wieder zu Felix. „Ich begnadige dich und nehme deine Schuld von dir." Er hebt das Schwert. „Ich wähle Ewigweiß." Dann bohrt er das Schwert durch das Herz seines Bruders.

Ich schreie, zumindest glaube ich, dass ich schreie. Felix fällt in seinen Ketten zusammen.

Die Personen in den Rängen sind aufgesprungen und rufen durcheinander, ein Chaos von aufgebrachten Stimmen. Etwas zieht mich zurück. Ich stolpere, verliere das Gleichgewicht und falle auf den Rücken.

Für einen Moment schließe ich die Augen.

Als ich sie wieder öffne, bin ich zurück im Elfenland.

EYES OPEN - Die Farben der GerechtigkeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt