1. Waldlandreich

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„Erst der helle Glanz des Morgens, lässt den Zauber Märchen sein"

Sanft waberten die letzten Klänge des Liedes durch den Proberaum, hallten aus, gedämpft durch die Teppiche an den Wänden.

Nach dieser Eskalation und dem energiereichen letzten Teil dieses Liedes war Calia immer ein wenig erschöpft. Sie drehte sich um und ging zurück zu ihrer Harfe, setzte sich auf den Schemel und lehnte ihre Stirn an das kühle Holz.

„Waldlandreich als nächstes?", schlug Löschi vor und blickte in die Runde. Eigentlich lautete Löschis Spitzname Leshy, aber nach einem entsprechenden Saufgelage eines Abends und gewisser Vorlieben wurde aus dem mystischen Namen eines Waldgeistes dieser Abklatsch. Calia schüttelte den Kopf.

„Können wir nicht eine kurze Pause machen? Wir proben schon seit Stunden...", seufzte sie.
„Ich finde, sie hat Recht", unterstützte sie Pan und stand hinter seinem Schlagzeug auf, um sich ausgiebig zu strecken.
Löschi zuckte mit den Schultern und nickte. „Meinetwegen. Sollen wir etwas rausgehen? Vielleicht finden wir im Waldlandreich vor der Tür etwas der wohl benötigten Energie", meinte er und grinste bei der Anspielung auf ihre Songs.

„Solange ihr diesmal nicht wieder voller Inbrunst draußen singt und damit sämtliche Tiere des Waldes verscheucht", warf Nornea ein und schmunzelte. Nicht, dass sie das ernst meinte. Sie mochte es, wenn man draußen entspannt zusammen saß und dabei zusammen sang. Zusammen singen war eine sehr entspannte Tätigkeit und sie wusste es zu schätzen.

„Dabei hast du letztes Mal angefangen", stichelte Calia vergnügt und ging voraus.

-

Es war später Nachmittag, die Sonne stand bereits nicht mehr ganz so hoch am Himmel und es lag ein warmer Duft von Frühling in der Luft. Bald würde die Festivalsaison wieder losgehen und die gesamte Band voll im Griff haben. Als Waldkauz spielten sie inzwischen in ganz Deutschland und hatten sich in der Szene einen gewissen Namen gemacht. Dabei konzentrierten sie sich hauptsächlich auf Pagan Folk, arbeiteten viel mit Flöten, Drehleiern und Harfe und sangen von der spirituellen Seite der Natur, Fabelwesen und längst vergessenen Legenden.

Ihr Proberaum lag am Rande einer Kleinstadt, nur wenige Gehminuten von einem ruhigen Forstwald entfernt. Kaum dort angekommen, stimmte Löschi bereits ein Lied an und keine drei Sekunden später, fielen die Anderen lachend ein. Selbst Nornea ließ sich von der guten Stimmung mitreißen und sang nach einem gespielten Augenverdrehen ebenfalls mit.

Die gute Stimmung in der Band war ungebrochen, da konnte selbst ein langer Probetag nichts dran ändern.

„Pssst", unterbrach sie Calia plötzlich und deutete auf einen Punkt unweit vor ihnen. Verwundert stoppten die Anderen ihr gerade gesungenes Lied.

„Schaut doch", flüsterte sie, als sie weiterhin nur Verwirrung ernte. „Das da Vorne sieht aus wie Luchs!", erklärte sie genauer.

Nun waren sie alle stehen geblieben. Tatsächlich befand sich weiter vorne auf dem Waldweg, dem sie gefolgt waren, ein Tier, welches Ähnlichkeiten mit einem Luchs besaß. Wie eine Statue stand es da und blickte neugierig in die Richtung der Band. „Seit wann gibt es denn hier wieder Luchse?", fragte Elrond, der ewige Optimist der Band. „Vielleicht sind wir ja die Ersten, die den ersten Wiederkehrenden sehen?", antwortete Calia und bewegte sich nun langsam auf das Tier zu.

Zögernd folgte ihr auch der Rest fünfköpfigen Gruppe.

Und entgegen aller Erwartungen bewegte sich der vermeintliche Luchs ebenfalls auf sie zu. Leichtfüßig schien er regelreicht über den Boden zu schweben und behielt stets den Blickkontakt bei. Als sie nur noch wenige Meter von ihm trennten, sprang er plötzlich zur Seite, kletterte einen Baum hoch und balancierte auf einem Ast, der sich in Höhe ihrer Köpfe befand.

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