Pride (Mormor)

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Es war sein erstes Mal. Sein erstes Mal in einer großen Stadt. Sein erstes Mal, dass er offen der sein konnte, der er nun einmal war.

Laut drangen die Stimmen an sein Ohr. Es waren so viele, sie waren so viele. In dem Dorf, aus dem er kam, hatte er immer das Gefühl gehabt der einzige zu sein. In der Schule, die er besucht hatte, hatte man Leute wie ihn ausgeschlossen. Hatte sie verachtet und ihnen Begriffe wie "Schwuchtel" oder "Tunte" nachgerufen.
Sie hatten nicht gewusst, dass auch er anders war und er hatte seinen Kopf gesenkt, dass sie es nicht merkten.

Hier musste er sein Haupt nicht senken.
Stolz blickte er sich um. Er war nur einer von vielen. Sie waren alle gleich.

Unaufhaltsam bewegte sich der Zug durch die Londoner Straßen. Rechts und Links standen Menschen schauten zu ihnen hinüber oder schlossen sich ihnen an. Es war unglaublich. Hier war er kein Außenseiter, hier war er ein Mensch wie jeder andere.

,,Hey", ein blonder Junge kam auf ihn zu, ,,Ist dir nicht zu warm?"

Der Blonde nickte in Richtung seines Hemdes und der langen Hose. Er selbst hatte lediglich eine Regenbogenflagge um seine Hüften geschlungen und sich in Großbuchstaben "Pride" auf die nackte Brust geschrieben.

,,Es ist ein kurzämliges Hemd", nannte er das offensichtliche, ,,und nicht jeder hat einen Oberkörper wie du."
,,Einen Oberkörper wie ich?"
,,Naja, gut genug, um oben ohne rumzulaufen."

Der Blonde kicherte und schüttelte den Kopf, als habe Jim etwas furchtbar dämliches gesagt. Dann trat er an ihn heran und begann langsam sein Hemd aufzuknöpfen. Dabei blickte er immer wieder zu Jim, als versichere er sich, dass dieser okay damit war.

,,Ich sag dir jetzt mal was", grinste der Blonde und holte einen schwarzen Stift raus, um auch auf Jims Brust eine Botschaft zu hinterlassen, ,,Jeder Körper ist gut genug, um oben ohne rumzulaufen. Du musst es ihm nur erlauben."

Der Blonde klemmpte den Stift zurück zwischen Flagge und Hüfte, betrachtete sein Werk und grinste zufrieden.

,,So siehst du schon eher nach Pride aus. Vielleicht findest du jetzt noch eine Flagge, die du dir um die Schultern hängen kannst...", im nächsten Moment entdeckte der Blonde einen Bekannten und schon war er in den Massen verschwunden.

Jim blieb ein wenig verdattert stehen, dann setzte auch er sich wieder in Bewegung. Am nächsten Schaufenster hielt er an, um einen Blick auf seine Brust zu werfen.
Die schwarzen Lettern hoben sich von seiner blassen Haut ab und bildeten das Wort "Gay".
Jim musste lächeln, nun trug er sein Geheimniss also tatsächlich für jeden sichtbar auf der Haut. Zuhause hätte er sich das nie getraut.

Im Laufe der nächsten Stunde schaffte er es dann auch noch, sich eine Regenbogenflagge zu organisieren, die er sich lässig über die Schultern hängte.

Die Zeit verging viel zu schnell. Allmählich wurde es Abend und die Menschenmassen begannen sich aufzulösen. Am liebsten hätte Jim die ganze Nacht weiter gefeiert. Gefeiert, weil er hier sein durfte, wer er war.
Er setzte sich auf eine nah gelegene Bank und schaute dabei zu wie die Menschen langsam auseinander drängten. Er sah, wie Männer ihre Flagge zurück in die mitgebrachten Rucksäcke stopften, wie Frauen die schwarzen Lettern von der Stirn wischten.

Es stimmte ihn traurig zu sehen, wie sie alle in ihr tägliches Leben zurückzukehren schienen. Ein Leben, in dem sie immer noch nicht ganz angekommen schienen. In einer Gesellschaft, die ihnen noch immer komische Blicke zuwarf. Er seufzte.

,,Hat es dir nicht gefallen?", der Blonde von heute Mittag stand vor ihm und hatte seinen Ausdruck der Resignation scheinbar mitbekommen.

,,Doch", er lächelte angesichts all der Erinnerungen, ,,doch, es war wunderschön. Aber es ist traurig, dass ich morgen in mein normales Leben zurückkehren muss."

,,Das müssen wir wohl alle. Ist dein normales Leben so schlimm?", der Blonde setzte sich neben ihn, inzwischen hatte er eine dünne Jacke angezogen und den Regenbogenflaggen- Roch gegen eine dunkle Jeans getauscht.

,,Eigentlich nicht. Ich meine niemand weiß... hier von", er deutete auf die Regenbogenflagge, die noch immer um seine Schultern drapiert war.
,,Weil deine Eltern es nicht gut aufnehmen würden?"

Jim schüttelte den Kopf.
,,Meine Eltern wären kein Problem. Die sind wahnsinnig liberal und ich glaube mein Dad hat vor seiner Zeit mit Mum alles gevögelt, was nicht bei drei auf dem Baum war. Die Idioten in meiner Schule sind da weniger offen."

,,Oh", meinte der Blonde, ,,Aber immerhin hättest du den Rückhalt deiner Familie."
,,Mmh...", machte Jim und schaute zu Seite.

,,Was hast du jetzt noch vor?", durchbrach der Blonde nach einigen Minuten das Schweigen.
,,Keine Ahnung. Vermutlich ins Hotel gehen und mir wünschen, dass dieser Tag niemals enden würde."

,,Wie wäre es, wenn wir den Tag niemals enden lassen?"
,,Wenn du mir deinen Namen verrätst, überlege ich es mir", grinste Jim.
,,Sebastian. Und du?"
,,Jim. Und ich finde die Idee die Nacht noch ein bisschen auszuschlachten sehr gut."

Sebastian grinste und zog Jim hoch. Sie steckten ihre Flaggen weg und Sebastian leitete Jim durch das Labyrinth der Londoner Straßen.
Er führte ihn direkt in eine kleine Kellerkneipe, wo sie ein Bier tranken und über Belangloses redeten.
Anschließend führte Sebastian sie in einen Club, den sie aber schon nach einer Viertel Stunde wieder verließen, weil Jim einfach kein Partymensch war.

Letztenendes fanden sie sich an der Themse wieder. In der Wasseroberfläche spiegelte sich der Mond und ein leises plätschern wehte zu ihnen herüber.
Sie waren ein ganzes Stück schweigend nebeneinander hergegangen, bevor Sebastian Jims Hand ergriffen hatte. Jim hatte ein wenig in sich hineingelächelt und die Hand des Blonden seitdem nicht mehr losgelassen.

,,Warum kennst du dich eigentlich so gut in London aus?", fragte Jim schließlich in die Dunkelheit hinein.
,,Ich lebe seit einigen Monaten hier bei einem Freund", anwortete Sebastian knapp.

,,Einem Freund?", Jim legte die Betonung auf das erste Wort.
,,Ja, einem Freund. Wir kennen uns schon ewig und er hat mich aufgenommen, als... als mein Vater mich rausgeworfen hat", die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

,,Warum?"
,,Weil ich schwul bin. Und weil mein Vater mich dehalb hasst", Jim meinte ein verdächtiges Schimmern in den blauen Augen des anderen zu entdecken.

,,Das tut mir Leid", sie waren stehen geblieben und am liebsten hätte Jim Sebastian in den Arm genommen.
,,Schon okay. Hier kann ich immerhin sein, wer ich bin."

Jim war sich nicht ganz sicher, ob der Blonde wirklich so 'okay' mit der ganzen Sache war, aber er beließ es dabei. Stattdessen zog er Sebastian nun tatsächlich in eine vorsichtige Umarmung, die er intensivierte, als er spürte wie der andere sich der Umarmung hingab.
Eng umschlungen standen sie einfach da. Blass im hellen Licht der Mondes und umgeben von einem sanften Plätschern und dem Rauschen der großen Stadt.
Es war Jim, als befänden sie sich außerhalb aller Zeitrechnung und er begriff, dass diese Nacht tatsächlich ewig währen würde. Dass Sebastian und er einander gefunden hatten und dass alles was sie brauchten, um sie selbst zu sein, der jeweils andere war.

Jim lächelte gegen Sebastians Brust. Seine Gedanken hörten sich an, wie die eines verliebten Teenagers.
Aber zumindest für den Moment steckte in ihnen die reine Wahrheit.
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Hallo meine Lieben,

pünktlich zum Ende des Pride Month schaffe auch ich es eine kleine Geschichte zum Thema beizutragen.

Ich werde jetzt noch ein wenig für die Uni machen müssen und morgen besuche ich vllt. meinen Bruder im Krankenhaus. Es wird also kein besonders spaßiges Wochenende, aber was soll?!

Habt ihr schon etwas für heute und morgen geplant?

Wir lesen einander,
L.

Sherlock One ShotsTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang