29. Jade

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Tag 36

Ich habe das Bild aus der Akte herausgerissen und zusammengefaltet. Jetzt steckt es auf der leeren Seite des Anhängers. Da ich in dieser Nacht schon wieder nicht schlafen kann – ich bin sicher, es ist bereits drei Uhr nachts – wandere ich durch die menschenleeren Gänge und begegne nur alle naselang ein paar Soldaten, die mich misstrauisch mustern. Sobald die Lichtkegel ihrer Taschenlampen aber mein Gesicht treffen, weichen sie zurück, als wäre ich ein Monster, das man fürchten muss.

Ich flüchte mich wie in den letzten Nächten auch in die leere Trainingshalle. Manchmal ist Charlie da. Er schläft auch nicht gut, sagt er. Auch heute Nacht ist die Halle in dämmriges Licht getaucht.

„Jade", brummt er, als er mich sieht. Das ist die einzige Begrüßung, die man von ihm bekommt. Er hat mir letzte Nacht – oder war es vorletzte? – erzählt, dass seine Frau von einem Wirbelsturm erfasst wurde wie eine Puppe und ihre Schreie das letzte waren, was er von ihr gehört hat. Sie hatten auf dem Land gelebt, anscheinend sehr unüblich, da sich die gesamte Bevölkerung in den Städten um die letzten kostbaren Ressourcen drängte. Seit ihrem Tod ist er wahrscheinlich so griesgrämig, denn Jonas meint, er sei früher ein sehr fröhlicher Mann gewesen. Ich kann es nachvollziehen, schließlich bin ich auch nicht gerade ein Sonnenschein.

Charlie hängt Boxsäcke auf und gibt mir Handschuhe. Die einzigen Geräusche, welche durch die Halle klingen, sind das dumpfe Klatschen, wenn unsere Hände gegen die schweren Boxsäcke donnern, und unsere schweren, keuchenden Atemzüge. Wir reden nicht. Worte sind nicht nötig. Allein seine Präsenz reicht aus, um mich zu beruhigen. Doch schließlich brechen doch Worte aus mir hervor.

„Ich glaube, sie lügen mich an." Ich packe alle meine brennende Wut in den nächsten Schlag. Der Boxsack protestiert stöhnend.

„Wer?" Klatsch, klatsch.

„Alle." Ich kann nicht aufhören, aber meine Arme schmerzen. „Dr. Ruth kannte mich, sie ist überzeugt davon, dass ich etwas weiß. Deswegen behält sie mich hier. Nicht etwa, weil sie barmherzig ist, sondern weil ich etwas habe, was sie will. Sie. Benutzt. Mich." Ich schlage heftig nach jedem Wort. Meine Fingerknöchel schmerzen selbst in den Handschuhen.

„Sie benutzt uns alle. Denkst du, wir sind ihr etwas wert? Wir sind einfach nur nützlich, um ihren Plan durchzusetzen. Solange wir nicht aufbegehren, dann sind wir lästig und werden beseitigt." Charlie schnauft und wischt sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

Ich beginne, auch mit meinen Beinen zu kicken. „Dann ist ihre Toleranzgrenze bei mir wohl erstaunlich groß. Ich kann mir nicht vorstellen, was für wichtige Infos ich habe."

„Letzten Endes bist du ihr egal, Jade. Ich habe schon versucht, es meinem Sohn zu erklären, aber er begreift es einfach nicht." Er lässt sich auf die Matte fallen. Plötzlich sieht er schrecklich müde aus. „Wenn er nicht wäre, wäre ich längst nicht mehr hier."

„Dann lauf weg. Nimm ihn mit und renn weg. Du bist sein Vater. Jonas muss auf dich hören." Meine Tritte werden immer unregelmäßiger, während auch aus mir die Kraft fließt, als hätte man einen Stöpsel gezogen.

„Ich könnte dir helfen zu gehen", sagt er leise. „Das Angebot steht noch."

Ich recke das Kinn hoch. Das kann ich nicht zulassen. Er soll sich nicht wegen mir in Gefahr bringen. Außerdem muss ich erst einmal herausfinden, was zum Teufel hier los ist. „Nein. Ich kann nicht gehen." Ich wische mir auch den Schweiß aus dem Gesicht und setze mich auf die Matte. Auf einmal will ich nur noch schlafen. „Glaubst du, Dr. Ruth will extra nicht, dass wir uns sehen."

„Möglich ist es." Er kratzt sich den Bart. „Du weißt aber schon das Wichtigste. Das kann sie dir nicht nehmen. Und du bist stark, du beißt dich durch. Du lässt dich nicht blind an der Nase herumführen."

Ich starre meine abgekauten Fingernägel an, meine knallroten Knöchel. Meine Lider fühlen sich schwer an. Ich sinke zurück auf die Matte und schließe die Augen. „Sei vorsichtig, Charlie", murmele ich. „Sie kann dein Leben ruinieren."

„Ich weiß."

Ich drifte in einen tiefen Schlaf ab.

***

Ein weiterer Tag. Meine Haut an den Hände ist gerötet und trocken von dem Putzmittel, aber ich beschwere mich nicht. Eigentlich lasse ich alles mehr oder weniger über mich ergehen. Das Schweigen zwischen Bran und mir fühlt sich nicht mehr so unangenehm an wie noch vor ein paar Tagen. Ich weiß auch nicht genau, was es ist. Die Luft klingt fast schon von gegenseitigem Verständnis. Was nicht heißt, dass ich ihn mag. Aber ich verstehe, dass auch er geliebte Menschen verloren hat. Eigentlich habe ich kein Recht mich zu beschweren.

„Willst du den Schrank solange schrubben, bis das Holz abblättert?", fragt er schelmisch.

Ich habe gar nicht gemerkt, dass er direkt hinter mir ist. So nah, dass ich seine Körperwärme spüren kann. Wenn man so groß ist, produziert man sicher viel Hitze. Meine Schultern verkrampfen sich.

„Nein. Willst du mich mit deinem Körper betören?" Ich stoße ihm meine Ellenbogen in den Bauch. „War einer deiner Eltern ein Riese?"

„Ich gehöre einer seltenen Trollspezies an, okay?" Er wirft mir ein schiefes Grinsen zu. „Besonders attraktiv und unwiderstehlich."

„Wenn du dir das einreden willst." Ich verdrehe die Augen und werfe ihn mit meinem Lappen ab.

„Ich rede es mir nicht ein. Ich weiß es." Er fängt den Lappen geschickt auf und pfeffert ihn in einen Eimer.

Wir ziehen um in den nächsten Raum. Ich habe genug von dieser bescheuerten Arbeit. Am liebsten wäre ich so klein wie Clare und würde unbeschwert durch das Gebäude fliegen, mein glockenhelles Lachen mein ständiger Begleiter.

Wir putzen weiter und Bran erzählt mir eine dämliche Geschichte aus seiner Schulzeit, die einen Lehrer und ein paar Gallonen Juckpulver enthält. Den Rest kann man sich denken.

„Wir wurden von der Schule verwiesen, aber das war es wert." Bran öffnet seinen Mund schon wieder affig breit, so wie er es immer tut, wenn er lächelt. Sein rechter Vorderzahn ist ein wenig schief.

„Wow, grandiose Geschichte." Ich rolle mit den Augen und konzentriere mich auf die Oberfläche vor mir.

„Ich wette, so verklemmt wie du bist, hast du noch nie eine Regel gebrochen." Er verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich. Mein Innerstes verkrampft. Er soll mich nicht so ansehen. Ich weiß, was er sieht. Und es ist abscheulich.

„Ich hatte bestimmt besseres zu tun. Und jetzt beweg deinen Arsch. Du wirst nicht fürs Rumscherzen bezahlt." Ich tauche meinen Lappen in das stinkende Wasser und wringe ihn aus. Meine Haut brennt.

„Ja, Boss", murrt er und geht an das andere Ende des Raumes, um dort zu putzen.

Es ist wieder einer der unzähligen Abstellräume. Ich verstehe nicht, warum genau wir sie sauber halten müssen. Kein Schwein hat jemals diese Räume betreten – außer uns natürlich.

„Hast du das gehört?" Brans Stimme durchbricht plötzlich unser Schweigen.

„Was gehört?" Ich putze seelenruhig weiter, halte aber meine Ohren gespitzt.

„Na, auf dem Gang. So ein Krachen", beharrt er.

„Ich habe nichts gehört. Keinen Mucks. Putz weiter."

Doch er gibt nicht auf. Nervensäge.

„Da war hundertprozentig etwas."

„Du willst dich doch nur vor der Arbeit drücken ... Okay, fein. Ich sehe nach. Rühr dich nicht vom Fleck." Ich werfe ihm einen kurzen eisigen Blick zu und werfe meinen Lappen hin. Dann schaue ich halt eben, was da war. Wenigstens wird er dann die Klappe halten. Mit schnellen Schritten verlasse ich den Raum und knalle die Tür hinter mir zu. Der Korridor ist menschenleer.

Die EliteWhere stories live. Discover now