47. Jade

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Tag 45

Diese Frau ist meine Mutter. Klapperdürr, mit eingefallenem Gesicht und intensiven grünen Augen. Ein Witz einer Frau. Und trotzdem steckt in ihr immer noch die Ahnung von Eleganz und Anmut, von Selbstbewusstsein und und Stolz. Als sie mein Gesicht sieht, bricht sie in Tränen aus. Ich stehe stocksteif da und weiß nicht, was ich tun soll. Diese Frau, MAMA, ist eine Fremde.

„Josephine." Tommy legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?"

Sie haben ihr Nährstofflösung eingeflößt, sie gewaschen und umgezogen. Stella hat sie gefunden, in einem kleinen Raum aus eingestürzten Trümmern gefangen. Lebendig begraben. Sie war unterernährt und verletzt. Sarah säubert die Wunde an ihrer Stirn.

Ich sollte nicht so reagieren. Ich sollte nicht so starr rumstehen. Ich sollte etwas fühlen.

Sie sieht mich aus tränenverhangenen Augen an, wie durch einen dichten Schleier, und streckt ihre dürren Arme nach mir aus. Ich lasse mich von ihr in eine Umarmung ziehen. Sie ist warm und knochig, ihr Herz flattert in ihrer Brust wie ein Vogel in einem Käfig. Und plötzlich bricht alles aus mir heraus, als wäre ein Damm gebrochen. Die Mauern, die ich sorgfältig um mich errichtet habe, die Wut, der Frust – alles fällt von mir ab und versickert im Boden. Ich beginne haltlos zu schluchzen, während ich meinen Kopf an ihrer Brust vergrabe wie ein Kleinkind.

„Ich habe dich so vermisst", wispert sie in mein Ohr. Ihre Stimme springt hin und her, auf und ab, als hätte sie Schluckauf.

Ich antworte nicht. Sie weiß es bereits. Sie ist meine Mutter. Es dauert Stunden, bis meine Tränen versiegen. Mein Kopf hämmert wie verrückt und ich fühle mich ausgedörrt wie die Wüste, aber ich bin glücklich.

Mama fragt mich, was geschehen ist. Stockend beginne ich zu erzählen, fange dreimal wieder an zu weinen, während sie schweigend zuhört. Von ihr geht eine seltsame tröstliche Ruhe aus. Als ich geendet habe, beginnt sie zu erzählen und dieses Mal höre ich ihr schweigend zu, während sie von ihren Schreien, ihren Klagen berichtet, die niemand hörte. Ihre Stimme klingt abgenutzt.

Es ist schon spät in der Nacht, als sie vor Erschöpfung einschläft. Ihre Haare liegen um ihren Kopf ausgebreitet wie ein Heiligenschein. Sie sind lang und wunderschön. Ich taste nach meinen eigenen Haaren, die genau die gleiche Farbe haben. Aber im Gegensatz zu ihr bin ich entstellt.

Ich erhebe mich, alle anderen sind wohl schon vor Stunden gegangen. Ich decke Mama zu und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn, als wäre nicht ich sondern sie das Kind. Dann verlasse ich mit federnden Schritten das Zimmer. Draußen sitzt Bran auf dem Fußboden und schnarcht. Ich tippe ihn mit dem Fuß an. Er zuckt zusammen und schreckt hoch, seine Hände in Verteidigungsstellung erhoben. Als er mich sieht, sacken seine Schultern nach unten. „Ach, du bist's."

„Hast du den Gang mit deinem Bett verwechselt?", frage ich.

Er streicht sich verlegen durch die krausen Locken, die von Tag zu Tag länger zu werden scheinen. „Äh, nein. Eigentlich wollte ich mich entschuldigen."

„Du? Du wolltest dich entschuldigen? Eigentlich muss ich das tun."

Er kratzt sich verschlafen am Kinn und gähnt. „Du bist aber stur wie ein Bock. Wir würden das nächste Mal wahrscheinlich miteinander reden, wenn wir hundert sind."

Er hat nicht Unrecht. „Falls wir überhaupt hundert werden." Ich strecke ihm die Hand hin und helfe ihm hoch, obwohl er eigentlich die meiste Arbeit macht. Er grinst mich an.

„Tut mir leid mit deinem Vater", sage ich leise.

„Tut mir leid mit deiner Mutter."

Ich stoße ihn an. Alles klar, er will also nicht über seinen Vater reden. Obwohl er lächelt, kann ich ganz genau das traurige Glänzen in seinen Augen erkennen. Wie ein Blick in bodenlosen, unendlichen Schmerz. Ich weiche seinem Blick aus, während wir schweigend durch die Gänge laufen. Alles ist ruhig, fast schon friedlich. Keine lauten Stimmen, kein fröhliches Geplapper. Nur dieses unwirkliche Gefühl, dass die Nacht mit sich bringt. Als würde das Leben plötzlich langsamer laufen.

„Habt ihr was gefunden?", frage ich schließlich.

Bran schüttelt den Kopf, seine Schultern nach vorne gesenkt. „Nichts. Nur seine Leiche und eine nichtssagende Nachricht."

„Tut mir leid."

„Macht nichts." Er seufzt ergeben. „Im Moment will ich einfach nur Clare nehmen und sie an einen schönen Ort bringen. Das Meer vielleicht."

„Das würde ich auch gerne mal sehen." In meiner Nase spüre ich eine Ahnung von frischer Seeluft. Fast schon meine ich, Salz zu schmecken.

„Wenn das hier vorbei ist, fahren wir hin."

Keine Ahnung, ob er es ernst meint. Vielleicht sagt er es auch einfach nur, weil er gerade verletzlich ist. Weil wir beide es sind. Ich wünsche ihm eine Gute Nacht, liege aber trotzdem noch wach, während Stellas lauter Atem den Raum erfüllt.

Ich kann nicht glauben, dass mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist.

Am nächsten Morgen besuche ich sie gleich nach dem Frühstück. Sie sitzt aufrecht in ihrem Bett, der Rücken kerzengerade. Aus ihrem Arm verläuft ein Schlauch, der sie mit Nährstoffen versorgt.

Ich setze mich neben sie auf einen Stuhl und lächele ihr zu. „Guten Morgen."

Sie erwidert mein Lächeln und nimmt den kleinen Apfel entgegen, den ich ihr mitgebracht habe.

„Mama, ich habe eine Frage." Ich ringe mit den Händen. „Wusstest du von allem? Ich meine, dass Dr. Ruth die Welt zerstören will?"

Sie schüttelt den Kopf. „Ich hatte gar keine Ahnung. Das Forschungszentrum wurde evakuiert, aber ich habe es ignoriert, weil ich gerade bei der Arbeit war. Plötzlich ist alles eingestürzt und ich war gefangen. Ich hatte keine Ahnung, was vor sich geht. Ich dachte, wir tun etwas Gutes."

„Also warst du auch nicht in den Plan von Tommys Vater eingeweiht?"

Sie seufzt leise. „Sebastian hat schon immer seine Probleme alleine gelöst. Ich war seine beste Freundin, aber er hat mich nie in irgendetwas eingeweiht. So war er nun mal."

„Wir suchen einen Mikrochip, den er versteckt hat", erkläre ich. „Vielleicht fällt dir ja ein Ort ein?"

„Tut mir leid. Ich bin mir sicher, Amelia kennt ihn da besser." Mama schüttelt traurig den Kopf. „Wir standen uns am Ende nicht mehr so nah."

„Wieso nicht?" Ich recke neugierig den Kopf.

„Differenzen. Ich habe ihm ein Geheimnis verraten und er war nicht damit einverstanden."

„Was für eins?"

Sie lacht. „Immer noch genau so neugierig wie früher, was?"

Wenn ich das wüsste. Aber wenn sie es meint. Ich bitte sie darum, mir etwas von früher zu erzählen. Es ist beinahe so, als würde ich Einblicke in ein fremdes Leben bekommen. Von der alten Jade, die nichts mehr mit mir zu tun hat. Ich höre Geschichten von Wettbewerben, die ich gewonnen habe, von Klavierstunden, von Nachmittagen im Forschungszentrum. Sie erzählt mir von Theaterbesuchen, von Galaabenden, von Reisen. Ich höre ihr gebannt zu, während sich vor mir ein Leben entfaltet, von einem Mädchen, das glücklich und genial war und eine glänzende Zukunft vor sich hatte. Ich wäre gerne sie.

„Hatte ich einen Freund?", frage ich. Stella hat immerhin einen und sie ist jünger als ich.

Mama lacht. „Für einen Freund hattest du überhaupt keine Zeit. Wir dachten immer, du würdest mit Tommy zusammenkommen, aber er steht ja offensichtlich auf Jungs."

„Also habe ich mich die ganze Zeit nur für Chemie interessiert?"

„Du wolltest Menschen helfen, so wie ich." Sie lächelt und streicht mir durchs Haar. „Du hattest sogar schon einen Platz an der Universität."

„Mit siebzehn?" Ich reiße die Augen auf.

„Aber natürlich. Die Unis haben sich um dich gerissen", sagt sie, als wäre es ein Unding, etwas anderes zu vermuten. „Ich war so stolz auf dich."

Davon ist wahrscheinlich nicht mehr viel übrig. Ich werde wahrscheinlich nie eine Eliteuniversität besuchen. Aus irgendeinem Grund finde ich das aber überhaupt nicht schlimm. Es gibt wichtigere Dinge.

Vielleicht hatte Tommy doch Recht, als er mir erzählt hat, sie würde mich bevormunden. Was, wenn sie nur stolz auf mich ist, weil ich ein Superhirn war?

Was, wenn sie wüsste, was für ein Wrack ich wirklich bin?

Die EliteWhere stories live. Discover now