Kapitel 4

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Eine vollkommene Dunkelheit umfing Liam. Er konnte nichts mehr sehen, außer der unendlichen Schwärze, die wie flüssiges Gold um ihn herumwaberte. Er spürte die Anwesenheit anderer Personen, doch er konnte sie nicht ordnen. Es war ihm, als hätte diese sonderbare Substanz um ihn herum eine Seele, die ihn aus allen Richtungen zu rufen schien. Liam versuchte sich zu bewegen, doch mit jedem Schritt sank er tiefer, als würde er durch Treibsand laufen. Und obwohl es bedrohlich wirkte und er seinem Tod in die Augen sehen konnte, fürchtete er sich nicht. Es war ihm, als wäre er nach einer langen Reise endlich wieder nach Hause gekommen. Er fühlte sich vollkommen. Seine Muskeln entspannten sich und er rutschte durch die Masse hindurch. Er fiel lange, doch auch hier schien nichts als die dunkelsten Mächte die Vorherrschaft zu besitzen.

Mit einem harten Schlag kam Liam plötzlich auf dem Boden auf. Er spürte kalten Marmor unter seinen Fingern und von irgendwo her hallten Schritte heran. Voll Panik vor dem sich nahendem Etwas versuchte sich Liam aufzurichten, doch eine große Hand zog ihn bereits auf die Füße. Er konnte das Gesicht der Person nicht erkennen, die ihrer Größe nach zu urteilen ein Mann war. Liam taumelte einen Schritt zurück und versuchte sich an irgendetwas festzuhalten. „Liam, weiche nicht vor mir zurück!", die Stimme des Mannes war tief und bestimmt und Liam hatte den Drang dem Fremden zu vertrauen, obwohl er ihn nicht kannte: „Wer seid ihr? Wo bin ich? Was...was ist überhaupt passiert?" Er hatte nicht gewollt, dass diese Fragen so aus ihm heraussprudelten. Er wollte nicht wie ein kleiner hilfloser Junge wirken, der sich verlaufen hatte, doch die Anwesenheit des Anderen veranlasste ihn dazu seine innersten Gefühle zu offenbaren. „Mein Name ist nicht von Belang, aber viele nennen mich Lehrer oder auch Großmeister. Dies alles ist die Schattensphäre, Liam! Das ist eine Art Parallelwelt zu der Euren. Du wirst es wahrscheinlich noch nicht verstehen, aber glaub mir eines Tages..." „Was interessiert mich was eines Tages ist? Wollen sie, der sich selbst der Großmeister nennt, mir etwa weiß machen, dass ich mich in einer Parallelwelt zur Realität befinde. Das nächste was sie mir erzählen ist wohl, dass Magie existiert!" Liam lachte heiser auf, vollkommen verzweifelt über die Ungreiflichkeit seiner Situation. Für wen bitteschön hielt sich dieser Mann? Und warum erzählte er ihm solche Lügen? Liam war eben erst grundlos zusammengebrochen, was ihn noch immer wunderte, und jetzt wachte er plötzlich in einer anderen Sphäre auf? Hier stimmte etwas ganz und gar nicht! Entweder mit diesem Großmeister, oder mit Liam selbst. „Wo ist Brad?" Liam versuchte den Mann in der Dunkelheit auszumachen, obwohl dies eigentlich nicht möglich war. Es schien geradezu, als hätte der Mann keine Gestalt. „Dein Freund ist bei dir. Er kümmert sich gerade um dich." Der Meister schien sich zu nähern. Liam versuchte langsam zu atmen. „Brad ist nicht hier! Lügen Sie mich nicht an!" „Bist du denn hier?" Der Mann kam immer näher und Liam versank immer mehr in Verzweiflung. Plötzlich spürte Liam einen stechenden Schmerz in der Brust und er zuckte zusammen. „Das sind die Nebenwirkungen, Liam. Deine Seele ist nicht daran gewöhnt getrennt von seinem Körper zu sein. Wir besitzen hier alle keine Gestalt, nur unsere Seele ist hier. Und unser Herz ist das Bindeglied zwischen Körper und Seele. Wenn du das öfter machst, gewöhnst du dich eines Tages daran, vertrau mir." Liam wollte ihn schon wieder unterbrechen, doch der Schmerz in seiner Brust ließ nicht nach und er ließ den Meister reden. „Du verstehst das nicht, aber ich bin hier um dich zu rufen. Wir haben schon lange genug gewartet und ich spüre, dass die Zeit reif ist." Liam hörte wie der Meister schwer ausatmete, als würde es ihn Kraft kosten diese Worte auszusprechen: „Liam, du hast eine bestimmte Gabe, nenne sie wie du willst. Deine Krankheit hat nichts mit irgendeiner Fehlfunktion deines Körpers zu tun. Das sind deine natürlichen Instinkte. Ich kann dir nicht sagen was du bist, das würdest du nicht verstehen, aber du musst nun anfangen mit dem Gedanken zu leben, dass du, sagen wir, kein Mensch bist." Liam hörte den Meister wie durch einen Tunnel, unfähig zu glauben was er gehört hatte. „Ich verstehe deine Ratlosigkeit. Doch ich kann dir leider noch nicht mehr sagen." Doch Liam hörte ihn kaum mehr zu. Der Schmerz in seiner Brust trieb ihm Tränen in die Augen und jeder einzelne Herzschlag schien seinen Körper zu erschüttern, als wolle ihn jemand an etwas wichtiges erinnern. „Liam, hörst du mir zu?" Liam hörte den Großmeister nicht mehr. Mit einem Mal schien plötzlich etwas zu zerreißen. Liam spürte wie der Krampf sich schlagartig löste und eine gefühlslose Leere sich in seinem Körper ausbreitete. Er hatte das Gefühl wie ein herrenloses Schiff im Ozean zu treiben. Seine Augen schlossen sich langsam in dem Wissen auf einen ruhigen Schlaf und seine Seele schien in den unendlichen Tiefen des Nichts zu zerfließen.

Ein Schlag ließ Liams Augen wieder öffnen. Er sah die Gestalt des Großmeisters über sich knien. Seine Hände schlugen immer wieder auf seinen Brustkorb ein, bis dieser zu zerbersten schien. Er spürte, wie sich der Meister näher an ihn heran beugte und ihm verärgert zuflüsterte: „Du elender Anfänger, pass demnächst gefälligst besser auf dein armseliges Leben auf!" Dann spürte Liam, wie er von einer starken Macht zurück in seinen Körper gesogen wurde.

„Liam, verdammt, hörst du mich? Liam?" Brads Stimme ließ Liam die Augen öffnen. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte und es kostete ihn alle Kraft nicht loszuschreien. Er lag im Inneren eines Krankenwagens und sah in das erschrockene und von Panik verzerrte Gesicht von Brad. Um ihn herum standen drei Sanitäter, die alle an ihm herumwerkelten, irgendwelche Schläuche befestigten und auf irgendwelchen Gerätschaften einhämmerten. Liam realisierte, was sie alle gedacht haben musste, was wahrscheinlich auch der Fall gewesen war, wenn er bedachte, was der Großmeister gesagt hatte. Er war zu lange von seinem Körper getrennt gewesen. Wenn das von nun an immer der Fall sein würde, wenn er ohnmächtig wurde wegen seiner Krankheit, die es ja anscheinend gar nicht gab, dann würde er nicht immer reanimiert werden können, eines Tages würde es zu spät für ihn sein...Plötzlich ergriff Liam eine Panik, welche er nicht begreifen konnte und wieder umfing ihn Schwärze, doch er kehrte nicht erneut in die Schattensphäre zurück, sondern wandelte nun in den trostlosen Weiten seiner Ohnmacht. 

The Lord of the NightWhere stories live. Discover now