Teil 4

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Mitten in der Nacht wurde Tyra von lauten Geräuschen, die die Nacht durchdrangen, aus dem Schlaf gerissen. Grelle Schreie waren zu hören und der kalte Wind, der peitschend seinen Atem an das kleine Fenster neben Tyras Bett hauchte, sorgte dafür, dass die junge Frau sich ihre Bettdecke etwas fester um den Körper zog. Es war wahrlich keine Seltenheit, Schreie oder ähnlich erschreckende Geräusche aus der Finsternis zu vernehmen, und mittlerweile war es fast zu einer lästigen Gewohnheit geworden, dadurch aus dem Schlaf gerissen zu werden. Doch irgendetwas an der Art der Geräusche war anders: Die ruhige, fast beständige Abfolge von Schrei und Stille war es, die sie frösteln ließ und eine unangenehme Gänsehaut verursachten.

Trotz dem bedrückendem Gefühl, welches sich in ihrer Magengegend ausbreitete wie ein Geschwür, versuchte die junge Frau wieder Ruhe zu finden und zog die Decke noch ein wenig fester um Ihren Körper. Doch schon einen Atemzug später zerriss ein erneuter herzzerreißender Schrei die Stille der Nacht, dessen Intensivität sogar das Rauschen des Windes übertönte. Unfähig, noch länger in ihrem Bett liegen zu bleiben, stand Tyra auf und zog sich rasch ihren Morgenmantel über. Sie würde nur kurz nachsehen, was im Innenhof von statten ging, und sich danach wieder zur Ruhe legen.

Eilig huschte sie die schmalen Gänge entlang, sorgfältig darauf bedacht, nicht von etwaigen umherwandernden Bediensteten entdeckt zu werden. Denn obwohl es ihr gestattet war, sich frei auf dem Anwesen zu bewegen, konnte sie getrost auf die anklagenden Blicke der Bewohner verzichten.

Nach all der Zeit sollte sie sich eigentlich daran gewöhnt haben, wie eine Aussätzige behandelt zu werden, dennoch schmerzte es Tyra jedes Mal aufs Neue, den verachtenden Blicken der Leute oder deren getuschelten Gemeinheiten ausgesetzt zu sein.

An den Wänden angebrachte Fackeln erschufen ein schaurig-schönes Ambiente in den unübersichtlichen Gängen und jemand, der diesen Ort nicht in-und auswendig kannte, würde sich hier wohl schnell verlaufen. Doch Tyra hatte lange genug hier gelebt, um alle Ecken und Kanten des gigantischen Anwesens zu kennen. Selbst die Tunnel waren vor ihr und Raliel nicht sicher gewesen trotz all der Warnungen, diese ja zu meiden. Schauergeschichten und Horrormärchen hatten sie über Leute gehört, die sich dort verirrt hatten - laut ihrem Kindermädchen sollen daher bis heute verirrte Seelen in den düsteren Tunneln ihr Unwesen treiben.

„Eines Tages werde ich Herrscher sein, Tyra", hatte Raliel damals zu ihr gesagt „Da muss ich die Tunnel und den Rest einfach verinnerlicht haben, verstehst du? Außerdem würde es niemand wagen, Hand an mich zu legen. Und an dich auch nicht. Ich beschütze dich!" Der damals achtjährige Raliel hatte schon zu dieser Zeit keine Angst gehabt. Der einzige Unterschied zu dieser Zeit ist, dass er sich heute nicht mehr um Tyra scherte. Nun sah er sie mit genau dem Blick an, den alle anderen ihr auch zuwarfen: Verachtung. Ein Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen hatte es ihrer Meinung nach nicht verdient, in einem solch glanzvollen Umfeld wie diesem aufwachsen zu dürfen.

Leise seufzend öffnete die Frau die grob gearbeitete Holztüre, die in das Nebenzimmer des Ratsaales führte. Von hier aus hatte man den besten Blick auf den Innenhof und war gleichzeitig vor neugierigen Blicken geschützt. In diesen Raum trat man nur, wenn man ihn auch betreten wollte. Ganz am Ende des langen Ratsaales befand sich noch eine Tür, die man auf den ersten Blick nicht wirklich erkennen konnte. Und genau deshalb war dies schon immer Tyras Ort gewesen: Wenn die ganze Familie im Innenhof versammelt war, lauschte sie hier oben, um trotz ihrer nicht willkommen Anwesenheit das Gefühl zu haben, Teil von etwas zu sein.

Auch jetzt stand sie hier oben allein. Diese Einsamkeit war ihr in der Regel mehr als willkommen, doch der Anblick, der sich Tyra gerade bot, war so erschreckend, dass sie sich jemanden an ihrer Seite herbei wünschte, um ihr zu versichern, es würde sich bloß um einen Alptraum handeln. Ein Mann war in der Mitte des Hofes auf den Boden fixiert worden. Durch die geschlossenen Fenster hindurch war es ihr nicht möglich, die genauen Worte, die er von sich gab, zu verstehen, doch die gerade vernommenen Schreie waren definitiv die seinen gewesen. Die Art und Weise, wie er dort unten fixiert wurde, ließ nur einen Schluss zu und das musste auch der armen Seele dort unten mehr als bewusst sein, denn er schrie um sein Leben. Atemlos beobachtete die Frau die wenigen Menschen, die sich jetzt langsam in Bewegung setzten und eine Reihe bildeten. Es waren allesamt starke, ausgebildete Kämpfer, aber selbst in deren Gesichtern konnte man ablesen, wie absurd dieses Szenario war, das sich dort gerade vor ihren Augen abspielte.

Die Erbin des BlutesWhere stories live. Discover now