Teil 9

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Sieben Tage, neun Stunden und achtundvierzig Minuten: So lange hatte Tyra kein Lebenszeichen mehr von Damien erhalten. Als hätte sich der Erdboden aufgetan, um ihn in sein großes dunkles Maul zu zerren und zu verschlucken. Raliel hatte es mit seinem 'Scherz' im Innenhof wahrlich zu weit getrieben, dessen war sich Tyra sicher. Manchmal verstand sie ihn einfach nicht. Schon lange scherte er sich nicht mehr um sie, manchmal zweifelte sie sogar daran, dass er sich ihrer Existenz überhaupt noch bewusst und war, und dennoch war die Wut, welche sich in seinem Blick gespiegelt hatte, fast greifbar gewesen. Seine sonst eher leblosen Augen brannten feuerrot und die Genugtuung, die kurzzeitig aufgeblitzt war, als er Damien innerlich verbrennen wollte, hatte sich innerhalb von einem Augenblick in Entsetzen, Fassungslosigkeit und Abscheu gewandelt. Nur um sich kurz darauf wieder in blanke Wut zu verwandeln... 

Damien jedoch hatte keinen Moment lang seine Fassung verloren und sich anschließend sogar noch würdevoll von Tyra verabschiedet. Warum also hatte er sich nicht mehr gemeldet? War sie ihm langweilig geworden oder hatte sie etwas Falsches gesagt?

Schon immer waren Selbstzweifel ihr größtes Laster gewesen und auch, wenn sie sich dessen mehr als bewusst war, so war es alles andere als leicht, damit aufzuhören. Wenn sie genau darüber nachdachte, so war es Raliel zu verdanken, dass sie sich überhaupt damit beschäftigen musste. Er hätte sich einfach raushalten sollen, so wie er es immer tat. Frustriert wechselte sie ihre Position im Bett in der Hoffnung, dadurch endlich etwas Schlaf zu bekommen - natürlich vergebens. Nach einigen Minuten stand die junge Frau seufzend auf, denn es brachte ja doch nichts. 

Leise stieg sie aus dem Bett, zog sich die dünne Tagesdecke um den Körper und ließ sich auf der schmalen Fensterbank nieder, um den klaren Nachthimmel zu betrachten. Die vielen Sterne am Himmel strahlten hell und entlockten ihr ein kleines Lächeln. Jemand hatte ihr einmal erzählt, dass jeder Stern am Himmel ein verstorbener Erdling war. Jene, die zu Lebzeiten Großes geleistet hatten oder eine wichtige Rolle spielten. Auch wenn Tyra sich sicher war, niemals einen Platz dort oben zu erhalten, so war sie dennoch überzeugt, dass ihr Ziehvater von dort oben auf sie herab strahlte. Was gab es schließlich Größeres, als sein eigenes Leben für das eines Waisenkindes zu opfern? Müde lächelnd drückte sie ihre Hand an die kalte Fensterscheibe, sah nach oben und flüsterte kaum hörbar: „Sei nicht enttäuscht von mir, Tiam. Ich werde dich stolz machen. Eines Tages... "

Ein halblautes Klopfen an ihrer Zimmertür ließ sie erschrocken innehalten. 

Zögernd und weil es ihr beigebracht wurde, jederzeit höflich zu sein, antwortete sie: „ Ja, bitte?!" 

Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein junges Dienstmädchen betrat den Raum: Tilda. „My Lady, bitte entschuldigen Sie die späte Störung. Ich…" Verlegen sah das Mädchen auf ihre Hände, die sie ungeschickt vor ihrem Körper hielt. Ihr Mund zitterte leicht und ihre Körperhaltung verdeutlichte die starke Anspannung, unter der sie zu stehen schien. Verwundert über das seltsame Verhalten des Dienstmädchens zog Tyra ihre Stirn in Falten. „Ihr dürft frei sprechen", sagte sie sanft. Einerseits um das Mädchen zu beruhigen, aber hauptsächlich, weil sie neugierig auf die Nachricht war. 

Die Angesprochene zögerte kurz, räusperte sich und sah Tyra dann zum ersten Mal direkt an. „ Es geht um Lord Raliel, Madam. Vor etlichen Stunden hatte er einen dringenden Termin unten im Dorf... Er hätte längst zurück sein sollen. Ich denke.. Es wäre möglich, dass ihm etwas zugestoßen ist." Die Worte der jungen Frau waren so schnell aus ihrem Mund gekommen, dass Tyra Schwierigkeiten hatte, ihnen zu folgen. Noch schwieriger allerdings fand sie die Frage, wieso das Mädchen mit diesem Anliegen zu ihr gekommen war. „Ihr solltet dies besser der Königin melden, Tilda."

Durch diese Worte anscheinend noch verunsicherter als zuvor, blickte das Mädchen wieder den Boden an, ehe sie murmelnd antwortete: „Lord Raliel hat mir aufgetragen im Fall seiner.. Falls er nicht vor Sonnenuntergang zurück sein sollte... Ich soll es nur ihnen sagen, Lady Tyra.Er meinte, Sie wissen schon, was zu tun sei."

Nun war es auf einmal Tyra, die verunsichert war, dies zeigte sie aber natürlich nicht. Wieso sollte Raliel das Mädchen zu ihr schicken? Und weshalb war er der Ansicht, sie wisse, was zu tun sei? Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen, auch wenn Raliel in den letzten Jahren nicht gerade der Umgaenglichste gewesen war, so würde sie ihn dennoch niemals im Stich lassen.  Er war ihr Bruder, der einzige, den sie kannte, und auch, wenn Blut dicker als Wasser war, benötigte man Wasser zum Leben. Kurz entschlossen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, erhob sich Tyra, befahl dem Mädchen, draußen zu warten, und zog sich eilig einige Kleidungsstücke über. Noch nie war sie bei den Trostlosen gewesen und noch nie hatte sie einen solchen Entschluss allein gefasst, doch langsam war es an der Zeit, die Ängste, die sie ihr Leben lang hier im Anwesen gefangen gehalten hatten, hinter sich zu lassen und das Richtige tun. Nach einem letzten Blick auf den Sternenhimmel und einem gemurmelten „Du wirst stolz auf mich sein, Tiam" trat die junge Frau entschlossen aus ihrem Zimmer

„Du wirst mich Begleiten, Tilda."

Ein erschreckter Laut entfuhr der Angesprochenen, die wohl nicht damit gerechnet hatte. Doch Tyra nahm sich nicht die Zeit, um auf Widerworte zu warten, sondern lief zügig die steinernen Treppen nach unten. Das Mädchen würde folgen, denn einen direkten Befehl zu missachten,auch wenn er nur von ihr kam, war den Bediensteten strengstens untersagt. Nach einigen Metern hörte Tyra auch, wie sich Tilda in Bewegung setzte und ihr folgte. „Das hast du gut gemacht", meldete sich auch die kleine Stimme in ihrem Kopf zu Wort und Tyra musste unbewusst lächeln.

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⏰ Last updated: Dec 30, 2019 ⏰

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Die Erbin des BlutesWhere stories live. Discover now