Teil 7

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„Den Weg des Leidens“ hatten die Alten den Pfad getauft, auf dem sich Damien und Tyra nun befanden. Unebene Pfade, dicht an den Klippen des gigantischen Berges, verliefen in Schlangenlinien, nur darauf wartend, die Leichtsinnigen, die es wagten, nicht darauf zu achten, wohin sie liefen, zu bestrafen. Ein kalter Schauer lief Tyra den Rücken hinab, als sie daran dachte, wie viele Männer und Frauen genau hier wohl ihr Leben verloren haben mögen. Schuldige, Unschuldige, Frauen, die ihren Männern die letzte Ehre darbieten wollten und es nicht geschafft hatten. Es waren unzählige.

Schlamm spritze herauf, als Damien in eine der vielen Pfützen trat. Das Unwetter der letzten Tage hatte den Weg noch gefährlicher werden lassen. Unter ihren Füßen sank der erdige, durchweichte Boden langsam ein, kleine Rinnsale bahnten sich einen Pfad zum Abgrund, wo sie nach unten plätscherten. Tyra hielt sich fest an der Innenseite, stets darauf bedacht, nicht unachtsam einen Schritt zu weit nach links zu laufen. Obwohl sie diesen Weg seit ihrer Kindheit kannte, blieb sie diesem fern. Was genau sie dazu bewogen hatte, nun mit Damien, einem Fremden, hierher zu kommen, war ihr nicht ganz klar. Möglicherweise war es der irritierende Anblick des Mannes auf dem Kreuz gewesen oder einfach die Tatsache, dass sie sich selbst etwas beweisen wollte. Egal was es war - nun beschritt sie diesen Weg und Zurückzukehren war keine Option.

Wenn auch am frühen Mittag die Sonne noch klar am Himmel zu erkennen war, so verschwand diese langsam, aber sicher hinter einem Meer aus Wolken, die sich düster über ihnen erhoben. Dennoch war es windstill, als die beiden Gefährten nach einiger Zeit ihren Zielort erreichten.

Der 'Bulin', wie er genannt wurde, war eine Art Kuppel, die zu allen Seiten hin windoffen gestaltet worden war. Pompöse Steinsäulen mit gravierten Schriftzeichen waren vor dem Eingang platziert worden. Anders als auf dem Pfad war der Boden hier mit Steinen ausgelegt, außerdem umrahmten viele uralte Bäume diesen geheimnisvollen Ort.

Siebenunddreißig Bäume, um genau zu sein. Diese Zahl war wichtig. Lange vor Tyras Geburt oder gar der der Herrscherin lebten vierzig verschiedene Nationen in dieser Welt. Davon hatte jede ihren eigenen Monarchen, der sich um die Bedürfnisse seiner Gefolgsleute kümmerte. Den zahlreichen Geschichten nach zu urteilen war es eine friedliche Zeit gewesen, in der Zusammenhalt untereinander von großer Bedeutung gewesen war.

Am Tag, als die Bäume gepflanzt worden waren, hatten sich alle Herrscher zusammengefunden. In der Mitte der Welt, auf dem gigantischen Berg des Feuerordens. Sie alle hatten einen Setzling mitgebracht, welcher die Stärke und die Verschiedenheiten der Nationen zum Ausdruck bringen sollte und den man als eine Art Friedensabkommen betrachten konnte. Ein Setzling vom Orden des Feuers, einer des Windes, einer der Wärme, der Kälte, der Höhe... Unterschiedliche Länder hatten den jeweiligen Baum ihrer Heimat an diesen bedeutsamen Ort gebracht, um ihn als Zeichen der Einigkeit in der Mitte des Landes platzieren.

Doch nicht jeder war mit dieser Art der Zusammenkunft einverstanden gewesen, daher kam es, dass sich vier der Herrscher untereinander verschworen, um die alleinige Macht, das Blut, an sich zu nehmen. Nachdem die Bäume schließlich platziert worden waren, die Menschen friedlich zusammen feierten und ihr Leben genossen, traten sie auf die Lichtung. Zum Kampf bereit und sich nicht zu schade, Blut vergießen zu lassen. Die Machtgier einiger weniger hatte schreckliche Konsequenzen nach sich gezogen.

Sechsunddreißig Nationen mussten an diesem schicksalhaften Tag mit ihrem Leben bezahlen, sodass am Ende nur fünf von ihnen übrig blieben. Diese fünf hatten es sich vorbehalten, die Welt zu besitzen. Fünf Nationen, fünf Herrscher und jeder würde nur für sich kämpfen. Der Frieden hatte zwar nicht auf ewig gehalten, aber die Bäume, mächtig und alt, hatten allem Stand gehalten und die Zeiten überdauert. Sie waren das letzte Andenken an die einst friedliche Zeit, in der es jedem gestattet, war frei zu leben.

Die Erbin des BlutesWhere stories live. Discover now