4. Kapitel

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Sie trat nach ihm, als der Kabelbinder in ihr Handgelenk einschnitt. Eine weitere Träne rollte aus dem Augenwinkel die Wange hinab.
,,Hör auf zu flennen", sagte der Mann - vielmehr der Junge - während er auch die andere Hand mit einem zweiten Kabelbinder an einem der Heizungsrohre festmachte und zuletzt mit einem dritten die ersten beiden verband.
,,Wer bist du?", krächzte sie. Ihr Mund und Hals waren staubtrocken. Sie hatte Durst, ihr Magen zog sich schmerzlich vor Hunger zusammen, die Kopfschmerzen hatten sich nur verschlimmert.  „Unwichtig", er musterte sie von oben bis unten.
„Viel wichtiger ist, wer du bist."
,,Was?"
Olivia verstand gar nicht mehr.
Sie verstand nicht, warum sie hier war - sie wusste ja nicht einmal, wo "hier" überhaupt war -, wer dieser rothaarige Typ war, der da vor ihr hockte und sie hinterhältig angrinste, fast zu sabbern schien, je länger er sie anstarrte. Sie gab sie die allerbeste Mühe, so verächtlich, wütend und hasserfüllt wie möglich zurück zu starren.
Leider schien ihn das nur zu belustigen, denn sein Grinsen wurde immer breiter, bis er schließlich lachend aufstand.
,,Du siehst aus, wie sie", sagte er, schon fast an der Tür angekommen.
,,Wie wer?", sie verstand absolut nichts mehr.
"Samantha, deine Mom."
Olivia stutzte. Samantha?
Ihre Mutter hieß nicht Samantha.
Sie hatte wohl laut gedacht, denn wieder lachte der Rothaarige nur, als er sagte: ,,Doch, tut sie. Aber dir hat sie sicher was ganz anderes erzählt, nicht?"
„Wovon sprichst du man?", schluchzte sie. Noch mehr Tränen liefen ihr durch's Gesicht.
„Was soll ich hier? Wo bin ich?"
Auf keine ihrer Fragen bekam sie eine Antwort, die Tür fiel donnernd in ihr Schloss, ein Schlüssel wurde darin gedreht, schloss mit einem Klicken ab.
Wieder saß sie im Dunkeln; konnte nicht einmal mehr den mausgrauen Beton der Wände erkennen.
Sie legte den Kopf auf die Arme, die nun, von den Kabelbindern fixiert, von den Ellenbogen an etwa 40 Zentimeter über dem Boden hingen.
Das Plastik schnitt in die Haut, jeder Versuch, es zu lockern oder gar zu lösen, machte es nur schlimmer.
Irgendwann gab sie es auf, zog geräuschvoll die Nase hoch, wischte sie an den Unterarmen ab, legte den Kopf erneut darauf, schloss die Augen, versuchte, sich zu beruhigen, scheiterte und spürte wieder, wie die Tränen ihre Augen fluteten. Sie öffnete sie wieder und weinte, wie sie es ja schon seit Stunden, die ihr wie Tage vorkamen, tat.

Offensichtlich war sie eingeschlafen, denn sie wurde durch Stimmengewirr von Außerhalb aus dem Schlaf gerissen.
Sie waren sehr dumpf, unverständlich, vermutlich alle männlich und sie stritten, denn obwohl sie nicht verstand, was da gesagt wurde, war es unverkennbar, dass sie alle völlig aufgebracht waren.
Es war schwer, auszumachen, wie viele Personen miteinander sprachen, aber sie vermutete mindestens 2, maximal 4 Männer.
Ohne weiter darüber nachzudenken, schrie sie:
„Ey!", sie schluckte, weil sie kaum noch einen klaren Ton herausbringen konnte, „Ich hab' Hunger!"
Es dauerte eine Weile, aber dann öffnete sich die metallene Tür, ein Lichtstreifen fiel in's Zimmer, jemand steckte den Kopf durch den Spalt; für sie nur als Silhouette sichtbar, da das Licht von hinten einfiel.
Allerdings war die Person dort in der Tür nicht der Rothaarige von vor ihrem Nickerchen. Dessen Haare waren sehr kurz gehalten, wenn nicht sogar gerade erst von einer Kahlrasur nachgewachsen. Die Haare dieses Mannes jedoch waren fast topfschnittlang, lockig und verwuschelt.
Sie hörte ein Klicken, ein Lichtkegel leuchtete auf; wer auch immer das war hatte eine Taschenlampe in der Hand und hielt diese wie einen Speer auf sie gerichtet. Geblendet kniff sie die Augen zusammen, die vom vielen Weinen vermutlich völlig verquollen und rot waren.
Eine gefühlte Ewigkeit rührte wieder sie noch ihr Besucher sich auch nur um einen Millimeter. Er war es, der schließlich mit seiner tiefen Stimme das Schweigen brach, die Tür - den Lichtkegel der Lampe weiter auf sie gerichtet - ganz öffnete, eintrat, die kahle nackte Glühbirne an der Decke allerdings aus ließ.
Er sagte nicht viel und es war nicht einmal an Olivia gerichtet, deren ganzer Körper unter so nie da gewesener Anspannung stand und den sie nur noch weiter ängstlich in sich zusammenzog, als er einen einzigen Namen brüllte: „Raphael!"

bloody scarsWhere stories live. Discover now