3. Dezember

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Everly POV

Schon wieder schlage ich das Jahrbuch auf und schaue mir die Fotos meiner damaligen Freunde an. Die High School war schon eine super Zeit. Es wäre so schön, sie nochmal erleben zu können. Wie es ihnen wohl allen geht? Sie nochmal zu sehen, das wäre doch etwas. Aber sie alle haben ihr eigenes Leben. Warum sollten sie denn bitte herkommen um mich zu besuchen, ich bin ihnen doch mittlerweile bestimmt egal. Was, wenn es nicht so ist? Sie könnten eines Tages den Kontakt zu mir suchen wollen und herausfinden, dass ich an irgendeiner Krankheit qualvoll krepiert bin. Das verdienen sie nicht. Ich sollte sie anrufen. Ihnen von dem Edward-Carstairs-Syndrom erzählen. So bekommen sie wenigstens die Chance eventuell nicht so ganz überrascht zu werden, sollten sie mich eines Tages wiedersehen wollen und können mich nochmal sehen, wenn sie das denn möchten. Ich würde mir so sehr wünschen, sie alle nochmal zu sehen, bevor ich sterbe. Kylie, Darren, Lou und vor allem Jacob. Sie waren mir früher so wichtig. Diese Bilder von uns in dem Jahrbuch versetzen mich in diese Zeit zurück. Als wir dachten wir würden für immer beste Freunde bleiben.

***
"Alice, du bist die Beste." Sie hat ihren freien Tag genutzt um mich mitsamt meinem Sauerstoff quer durch Willow Springs zu fahren, damit ich irgendwie die Kontaktdaten von meinen High School-Freunden herausfinden kann.

Ich habe bei den Leuten geklingelt, von denen ich denke, dass sie etwas wissen könnten. Das Ergebnis war ernüchternd. Nachdem ich schon online nichts gefunden habe, außer dass Jacob wohl ziemlich erfolgreich in Havard war, ist es auch nur mäßig gut gelaufen, überall zu klingeln. Kylies Familie ist nach dem Umzug nach Atlanta anscheindend nochmal umgezogen und niemand weiß wohin. Jacob hat seit dem Anfang seines Studiums keinen Kontakt zu seiner Familie mehr. Louisa ist auf so einer Selbstfindungs-Weltreise, wo sie nur für sich sein möchte. Ihre Mum hat schon eine Weile nichts mehr von ihr gehört, aber sie meint die Nummer die sie mir gegeben hat, sollte noch stimmen. So wie Mrs. Grayson klang, scheint sich Lou aber nicht wirklich über einen Anruf zu freuen. Darrens Eltern haben mir Kekse angboten und haben mir erzählt, dass er es am Broadway versucht, aber statdessen in einem Restaurant kellnert, da er noch keine Rolle bekommen hat, aber er gibt anscheinend nicht auf. Das ist absolut der Darren, den ich kannte. Mit ihm hatte ich von ihnen allen noch am längsten Kontakt. Er ist so ein herzensguter Mensch. Ich kann bis heute nicht verstehen, warum wir uns irgendwie nicht mehr beieinander gemeldet haben.

Darren anzurufen ist übrigens auch das Erste, was ich tue, nachdem Alice mich Zuhause abgesetzt hat.

Es klingelt ein paar Mal, dann hebt tatsächlich jemand ab. "Hey, hier ist Darren."

Beim Klang seiner Stimme vergesse ich sogar für einen Moment meine Schmerzen. "Hallo, ich bin's..."

"...Everly! Wie schön, dass du anrufst!" Schon bevor ich meinen Satz beenden kann, fällt er mir ins Wort und ich kann ihn vor meinem inneren Auge lächeln sehen.

"Wie geht's dir?" Die Frage die ich ihm stelle, werde ich gleich zurück bekommen und ihn seine gute Laune zerstören.

"Super. New York ist der Hammer." Es freut mich wirklich für ihn, dass es ihm gut geht. "Meine Broadway-Karriere hat zwar noch nicht so wirklich begonnen, aber Darren DeLacy bleibt am Ball."

"Wie schön, dass es dir in New York so gut gefällt." Eine Träne kullert über meine Wange. Ich wünschte, mir ginge es so gut, wie ihm und ich könnte ihm irgendetwas schönes erzählen.

"Du klingst nicht so gut, alles in Ordnung?"

Oh, wenn er nur wüsste, wie Recht er damit hat... "Darren, ich bin krank. Ernsthaft krank." Und dann wird es ganz still.

Louisa POV

Heute bin ich erstmal in der Gegend geblieben und habe mein Zuhause für die nächsten paar Wochen erkundet. Ziemlich in der Nähe ist eine ziemlich süße Markthalle. Auch Shoreditch mit diesen coolen Grafittis ist nicht weit weg. Neben den weniger reichen Teilen der Stadt ist dann recht bald ein modernes Bankenviertel.

Abends lasse ich mich dann nach meinen Fish'n'Chips ins Bett fallen und werfe einen Blick auf mein Handy. Drei verpasste Anrufe von einer unbekannten, amerikanischen Nummer. Sie hat auch eine Nachricht auf meiner Mailbox hinterlassen. Ich höre sie ab.

"Ähm...Hi. Also hier ist Everly. Everly Martin. Ich hoffe ich hab die richtige Nummer und das ist dein Handy, Louisa. Bitte ruf mich zurück, wenn du Zeit hast. Deine Mutter meinte, du wärst auf einer Reise. Ich kann verstehen, wenn du jetzt keinen Kontakt willst und sauer auf mich bist, aber es ist mir wichtig, ich muss dir etwas sagen."

Wir haben seit Jahren nichts mehr voneinander gehört. Warum ruft sie jetzt an? Alles was mich früher definiert hat, wollte ich doch auf dieser Reise hinter mir lassen. Dieser Anruf ist das Letzte, was ich erwartet habe. Ich sollte sie wahrscheinlich zurückrufen. Es wird schon einen Grund geben, weshalb sie angerufen hat. Andererseits war genau das nicht das Ziel der Reise, wieder die zu werden, die ich war. Auch das, was in Deutschland passiet ist, war nicht das Ziel. Das Ziel war, zu mir selbst zu finden, herauszufinden, wer ich wirklich ganz tief in mir bin.

Jacob POV

"Guten Morgen, Judy, wie geht es dir heute?", sage ich schaue nochmal auf die Werte, die Emily da in die Krankenakte eingetragen hat.

Judy Erikson streckt sich. "Hi, Doc. Das Herz tut bis jetzt seinen Dienst und ich fühle mich endlich mal wieder lebendig. Denken Sie ich kann bald wieder in den Theater-Club? Die nächste Aufführung ist wohl Othello. Ab Januar beginnen die Proben und ich wollte schon immer mal Desdemona spielen."

Wie Everly damals, als wir in unserem letzten Jahr, als wir noch auf der High School waren. Everly und Darren waren zusammen im Theater-Club und sie hoffte auf ein Stück von William Shakespeare, während Darren ganz versessen auf ein Musical war. Am Ende war es nichts von beidem. Es war eine unheimlich seltsame Version von Wer die Nachtigall stört. Everly musste irgendwie als Scout hinhalten und Darren war ihr Vater Atticus, was absoult grauenhaft war. Seitdem habe ich nichts seltsameres gesehen.

Ach Everly. Es tut mir so unheimlich Leid, dass ich mich nicht bei ihr gemeldet habe. Sie ist nun mal viel zu verknüpft mit Willow Springs. Ihre Familie lebt noch dort. Genauso wie meine. Und genau hiet liegt das Problem. Mein Traum war es schon immer, Medizin zu studieren. Von meinen Eltern habe ich keine Unterstützung erfahren. Stattdessen haben sie versucht mir "diesen Quatsch" auszureden und wollten mich lieber für das Familien-Unternehmen als Kfz-Mechaniker. Ein Beruf mit dem ich persönlich absolut nichts anfangen kann.

Aber zurück zu Judy. "Wie es scheint, hat dein Körper das Spenderherz gut angenommen. Wir können dich in wenigen Tage entlassen, wenn es keine Komplikationen gibt. Und sicherlich kannst du dann Theater spielen. Es ist nur wichtig, dass du dich nicht übernimmst. Wenn dir etwas zu viel wird, musst du bitte unbedingt auf deine Gesundheit achten und dich schonen, auch wenn es dir nicht gefällt, klar?"

"Machen Sie sich keine Sorgen, ich werde auf mich aufpassen. Sie sollten mich doch mittlerweile kennen." Judy ist ein unglaublich liebes Mädchen. Und sie erinnert mich immer wieder aufs Neue an Everly. Jetzt gerade müsste ihre Lieblingszeit des Jahres beginnen. Weihnachten. Ob Everly auch manchmal noch an mich denkt?

(Bild: Jacob)

I'll be Home For Christmas (Adventskalender 2019❤️)Where stories live. Discover now