1. Kapitel - der Brief

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(Bild: Kate Adler)

Ich setze die letzten Striche meines Bildes und sehe dann hoch, um die Zeichnung noch einmal kritisch mit dem Motiv zu vergleichen. Ich richte meinen Blick wieder auf das Papier, endlich bin ich zufrieden. Es ist der Baum zu sehen, auf dem ich so oft sitze und lese oder zeichne, sogar mein Buch liegt noch aufgeschlagen auf einem Ast. Das Bild hat eine friedliche Athmosphäre, es sieht so aus, als wäre diese Stelle der Lieblingsplatz einer Person, was ja auch stimmt. Es ist genau so, wie es sein soll. Zufrieden bringe ich es in mein Zimmer, nehme aber nicht wie sonst den Weg über den Baum, sondern benutze die Treppe. Schließlich soll das Bild nicht zerknicken.
Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass es Zeit fürs Abendessen ist, und erst jetzt bemerke ich das Knurren meines Magens. Ich beeile mich, in die Küche zu kommen und sehe dort Dad, der sich über irgendwelche Papiere gebeugt hat. Er schaut auf und ich sehe, wie sich seine gerunzelte Stirn glättet und ein Lächeln auf seinem Gesicht erscheint. „Da bist du ja, ich wollte gerade nach dir rufen." Seit Mums Tod vor zwei Jahren wohnen wir zu zweit in dem Häuschen in East Tilbury, ich bin bis vor wenigen Wochen nur einige Straßen weiter zur Schule gegangen und Dad arbeitet im Nachbarort. Ich fühle mich wirklich wohl hier.
Er greift nach einem Briefumschlag, der auf dem Tisch liegt, und hält ihn mir hin: „Der ist für dich." „Er sieht wichtig aus", bemerke ich und drehe den überraschend schweren Brief um.

Ms K. Adler
Zimmer unter dem Dach
Farm Road 12
East Tilbury

K. Adler. Das bin eindeutig ich. „Weißt du, was das sein könnte, Kate?", reißt mich die Stimme meines Vaters aus den Gedanken. Ich schüttle den Kopf. Das Siegel knackt leise, als ich es zerbreche und den Brief auffalte. Während ich das ungewöhnlich dicke Papier überfliege, wundere ich mich mehr und mehr. Dad muss wohl mitgelesen haben, dann er meint kritisch: „Das muss ein Scherz sein." Wahrscheinlich. Es kann doch keine „Schule für Hexerei und Zauberei" geben! Mein Vater macht Anstalten, den Brief zu entsorgen, aber ich lege meine Hand auf seinen Arm. „Kann ich ihn behalten?" Ich möchte ihn noch mal genau untersuchen. „Wenn du willst", sagt Dad ein wenig verwundert und zuckt mit den Schultern.
Nach dem Essen lese ich den Brief noch viele Male durch, aber das Geschriebene bleibt unlogisch.

Sehr geehrte Ms Adler,
Wir freuen uns, ihnen mitteilen zu können, dass sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände. Das Schuljahr beginnt am 1. September. Wir erwarten ihre Eule spätestens am 31. Juli.
Mit freundlichen Grüßen,
Minerva McGonagall
Schulleiterin

Nichts davon macht Sinn, aber ich kann mir trotzdem irgendwie nicht vorstellen, dass es ein Scherz war. Ich gehe auch die erwähnte Liste durch, aber damit wird meine Verwirrung nur noch größer. Einen Zauberstab und einen Kessel! Wo soll man bitte so was kaufen?!
Erst jetzt fällt mir ein dritter, kleinerer Zettel auf, der noch im Umschlag ist. Auf ihm steht in einer gleichmäßigen Handschrift:

Da Sie aus einer nichtmagischen Familie stammen, wird der Wildhüter und Lehrer für Pflege magischer Geschöpfe Rubeus Hagrid sie in den nächsten Tagen aufsuchen. Sollten sie Fragen haben, können sie sie diesem stellen.

Dann werden wir wohl bald sehen, ob das Ganze ernst gemeint war.

Ich sitze gerade auf meinem Baum und zeichne ein kleines Mädchen, das unten auf der Straße fahrradfahren lernt, als plötzlich ein riesiger Mann mit langen, dunklen Locken und einem ebensolchen Bart in mein Blickfeld tritt. Über zwei Wochen ist die Sache mit dem Brief jetzt her und ich habe es schon fast vergessen. Aber dieser Mann sieht so ungewöhnlich aus, dass ich sofort wieder daran danken muss. Ist das etwa dieser Rubeus Hagrid? Ich sitze auf meinem Ast wie festgenagelt und verfolge den Riesen mit den Augen. Er hält etwa drei Meter vor unserer Einfahrt an und zieht einen Zettel aus einer seiner unzähligen Taschen, den er aufmerksam studiert. Er blickt auf, als wolle er das Geschriebene mit unserem Haus vergleichen. Erst als er sich wieder in Bewegung setzt, wache ich aus meiner Erstarrung auf und klettere blitzschnell zu meinem Fenster. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er tatsächlich auf unsere Haustür zukommt. Ich greife den Brief von meinem Nachttisch und will die Treppe runterrennen, halte dann aber inne. Was, wenn es doch nicht dieser Lehrer ist? Ich warte lieber erst mal hier. Es rumst zwei mal laut, als der Riese anklopft und sofort sehe ich Dad leise schimpfend zum Eingang laufen. Er hasst es, wenn an die Tür geklopft und nicht geklingelt wird. Mein Vater öffnet mit Schwung und geht promt erschrocken einen Schritt zurück. Der Fremde füllt den Türrahmen komplett aus. Ohne aufgefordert zu werden tritt er ein und muss sich dafür ordentlich bücken. „Sie sind dann wohl Kates Vater?", fragt er Dad, der überhaupt nicht mehr weiß, was los ist. „J-ja?" Der Riese hält ihm seine Pranke hin und dröhnt: „Ich bin Rubeus Hagrid, Wildhüter und Lehrer auf Hogwarts." Ich verharre weiterhin oben und schaue durch das Geländer zu, obwohl ich jetzt weiß, dass ich gemeint bin. Ich kann es immer noch nicht fassen. Gibt es dieses Hogwarts wirklich? Dad errinnert sich endlich an den Brief und scheint seine Fassung zurück zu gewinnen. „Dann sind sie also für diesen Scherz verantwortlich?!" Er ignoriert die Freundliche Geste. Der Fremde schaut verwundert, als er sagt: „Was für ein Scherz? Ihre Tochter wird ab nächstem Schuljahr Hogwarts besuchen, die beste Zaubererschule weit und breit!" Er schaut sich um und entdeckt mich. „Da ist sie ja!" Ich gehe langsam die Treppe runter, den Brief fest in der Hand. Meine Gedanken fahren Karussell, eine Schule für Zauberei, ich komme auf eine Schule für Zauberei! Ich halte an und aus der Nähe wirkt der Fremde noch größer. Trotzdem schließe ich, ihm zu vertrauen. „Hallo, Kate. Ich bin Rubeus Hagrid, aber nenn mich lieber einfach Hagrid", sagt der Riese mit einem freundlichen Lächeln. „Du hast bestimmt viele Fragen, die kannst du mir jetzt gerne stellen." Ernst scheint mir keine einzufallen, aber dann brechen sie alle aus mir heraus: „Wo kann man einen Zauberstab kaufen? Kann ich wirklich zaubern? Sind dort alle so riesig? Und was ist mit dem „wir erwarten ihre Eule" gemeint?" Hagrid unterbricht mich in meinem plötzlichen Redefluss: „Immer mit der Ruhe, wir haben genug Zeit. Ein Zauberstab und auch die anderen Sachen kann man in der Winkelgasse kaufen, ja du kannst zaubern, nein, ich bin da eine Ausnahme, alle anderen sind genauso groß wie Muggel, wir Zauberer verschicken Post mit Eulen. Hab ich was vergessen?" Ich höre gebannt und mit großen Augen zu und frage: „Was sind Muggel?" „Das ist unsere Bezeichnung für nichtmagische Menschen." Dad steht immer noch geschockt daneben und hört auch zu, fassungslos. Hagrid beginnt in seinen Taschen zu wühlen und als er eine Packung Würstchen findet sagt er: „Na, was haltet ihr davon, wenn wir nach einem kleinen Mittagessen deine Schulbücher kaufen gehen?" Wie eine Marionette geht mein Vater in die Küche und beginnt, die Würstchen zu kochen.

(Nov 2019)

Grün und Silber (Harry Potter FF, Next Generation)Where stories live. Discover now