4. Kapitel - im Hogwarts-Express

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„Zu welchem Gleis musst du?“, fragt mein Vater mich. Ich ziehe das Ticket aus meiner Jackentasche und halte es ihm hin, sage aber trotzdem dazu: „Gleis 9¾.“ „Gleis 9¾?“, wiederholt er mit gerunzelter Stirn, meint dann aber: „Das wird wieder so ein Zaubererding sein.“ Doch an dem Bahnsteig, auf dem auf einer Seite ein Schild mit der Zahl 9 und auf der anderen eines mit der Zahl 10 hängt, weiß keiner von uns weiter. Ich beobachte die Menschen um mich herum, aber auf den ersten Blick sehen alle ganz normal aus. Dann fällt mir ein älteres Mädchen ins Auge, das nicht nur wie ich einen riesigen Gepäckberg hat, sondern auch einen Käfig mit einer Eule mit sich trägt! Ich erinnere mich an Hagrids Worte über Eulen und mache meinen Vater darauf aufmerksam. Er geht auf die Familie zu, doch ehe er den Mund öffnen kann, sind sie einfach verschwunden! Ich untersuche die Absperrung, neben der sie standen, weil ich mir einfach nicht erklären kann, wo sie hin sind. Plötzlich gibt die Ziegelwand unter meiner Hand nach und ich gebe einen überraschten Laut von mir. Meine Hand ist in der Mauer verschwunden! Dad reißt die Augen auf, ihm hat es wohl ebenfalls die Sprache verschlagen. Langsam strecke ich den Arm weiter hinein, bis ich plötzlich das Gleichgewicht verliere und als ganzes durch die Wand falle.
Mein erster Gedanke ist unsinnigerweise, dass das Pflaster hier dreckiger ist. Dann hebe ich den Kopf und mir bleibt vor Staunen der Atem weg: es ist wie in einer anderen Welt! Wo eben noch unzählige Leute in Anzügen umhergehastet sind, stehen jetzt weniger Menschen, Familien, die gar nicht hektisch wirken. Doch das eindrucksvollste ist die alte rote Dampflock, die tatsächlich vor einige Waggons gekoppelt ist! Wie aus weiter Ferne dringt die Stimme meines Vaters an mein Ohr, aber ich bin zu gebannt, um zu reagieren. Kurz darauf höre ich Dad wieder rufen und ich reiße mich etwas widerwillig von dem Anblick los. Er hat seine Hand durch die Wand geschoben, ähnlich wie ich vorher und tastet umher. Unwillkürlich muss ich lachen , greife dann aber nach ihr und zieh Dad auf den Zauberer-Bahnsteig. Er ist genauso fasziniert wie ich vorher, eigentlich immernoch, und so stehen wir erst mal eine Weile da und lässt das alles auf sich wirken. Irgendwann bricht er das Schweigen: „Dann solltest du mal einsteigen.“ Er umarmt mich fest und fährt fort: „Es tut mir so leid, dass ich nicht mit dir hierbleiben kann, bis der Zug abfährt. Ich wünsche dir wirklich, dass du dich nicht einsam fühlst und viele Freunde findest.“ Ich kann nichts sagen, nur zuhören und nicken, so groß ist der Kloß in meinem Hals. „Ich bin stolz auf dich“, flüstert Dad, löst die Umarmung und fährt mir übers Haar. Sanft schiebt er mich in Richtung Zug, dann geht er zurück zu der Ziegelwand, durch die wir hergekommen sind. Ich finde jetzt doch meine Sprache wieder und rufe: „Tschüss!“ Er lächelt, und bevor ich noch irgendwas sagen kann, ist er weg.
„Du bist ein komisches Mädchen, Kate!“, sage ich laut zu mir selbst, als schon wieder die Vorfreude in mir aufwallt. „Alle zwei Minuten wechselst du zwischen Abschiedsschmerz und Aufregung.“ Ich wuchte irgendwie meinen Koffer in den Zug und suche mir ein freies Abteil. Irgendjemand wird sich schon noch dazusetzen, schließlich ist die Abfahrt erst in einer halben Stunde. Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich die ankommenden Familien beobachte und versuche zu erraten, welche der Kinder in meinem Jahrgang sein werden, irgendwann fällt mir ein älterer dunkelhaariger Junge auf, der sich offensichtlich mit seinem Vater streitet. Plötzlich zieht er seinen Zauberstab und setzt ein Papierknäul in Brand, ich sehe gebannt zu und drücke mein Gesicht gegen die Scheibe. Das ist der erste Zauber, den ich sehe! Irgendwann werde ich das auch können... Meine Gedanken schweifen wieder ab, sodass ich gar nicht bemerke, wie nacheinander zwei Jungen die Abteiltür öffnen und sich setzen. „Hallo, ich bin Thomas“, fängt der eine dann an zu sprechen und ich zucke zusammen. Ich sehe auf, aber er hat wohl gar nicht mich gemeint. „Jamie Abbott“, stellt sich auch der andere vor. Ich mustere die beiden gründlich. Jamie hat dunkelblondes Haar und ist groß für sein Alter, Thomas sieht eher unscheinbar aus mit seinen braunen Haaren und der Brille. Jamie redet weiter: „Und wie heißt du mit Nachnamen?“ „White.“ Mich ignorieren die beiden, und obwohl ich normalerweise bei so etwas ziemlich sauer geworden wäre, höre ich erst mal nur zu. Thomas fragt gerade: „In welches Haus würdest du am liebsten kommen?“ „Auf jeden Fall Hufflepuff, wie meine Mum“, antwortet Jamie in überheblichen Ton. „In Ravenclaw sind nur Streber, nach Gryffindor kommen die Angeber und Slytherin kannst du gleich vergessen.“ Ich verkneife mir die Bemerkung, dass er dann ja ganz hervorragend nach Gryffindor passen würde, aber ich will mir nicht gleich alles von meinem Temperament und meiner spitzen Zunge verderben lassen. Bilde dir nicht ganz so schnell deine Meinung, Kate!, ermahne ich mich in Gedanken. Das ist eines meiner größten Probleme. Wenn ich jemanden erst mal eingeschätzt habe, was ich meistens viel zu schnell und anhand von viel zu wenigen Fakten mache, muss schon wirklich was passieren, dass meine Meinung wieder ändere. Also höre ich weiter zu, krampfhaft bemüht, nicht daran zu denken, was für ein Idiot Jamie ist. Thomas nickt und stimmt ihm zu: Ja, wahrscheinlich ist Hufflepuff am besten.“ Dem weiteren Gespräch höre ich nur am Rande zu und sehe erst wieder auf, als noch jemand das Abteil betritt, ein hübsches Mädchen mit blond gewellten Haaren. „Entschuldigung, ist hier noch frei?“ Ich unterdrücke ein Schnauben und fühle mich in meiner Einschätzung bestätigt. Die wird von den beiden Herrschaften natürlich beachtet, nur mich ignorieren sie! Jedenfalls stellt Jamie jetzt sich und den Anderen vor: „Ich bin Jamie Abbott, das ist Thomas White. Wie heißt du?“ „Layla Chambers“, antwortet sie und streicht sich mit einem, Lächeln, das für andere Leute, die weniger Erfahrung haben als ich, schüchtern aussieht, eine Haatsträhne hinters Ohr. Solche Mädchen kenne ich! Die tun immer ganz lieb und nett und schüchtern, sind dann aber eigentlich richtige Biester und nutzen einen nur aus. Ich befehle der leise protestierenden Stimme in meinem Hinterkopf, mich in Ruhe zu lassen und verschränke die Arme. Sie sieht mich fragend an:„Und wer bist du?“ Wenigstens scheint sie im Gegensatz zu den Jungs keine Tomaten auf den Augen zu haben. „Ich bin Kate-“, setze ich an, doch Jamie unterbricht mich: „Warte, du gehörst bestimmt zu den Weasleys, bei den roten Haaren.“ Er lehnt sich mit einer siegessicheren Miene zurück. Aha, Mister Angeber will also Miss Lieb-Nett-Schüchtern beeindrucken, aber das wird so leider, leider nichts werden. „Nein, ich heiße Kate Adler“, sage ich kühl und drehe mich zum Fenster. Die können mich alle mal! Solche Idioten hätte ich auch zu Hause haben können.
Die restliche Fahrt beobachte ich die vorbeiziehende Landschaft. Als die Hexe mit dem Imbisswagen kommt, kaufe ich einige Schokofrösche, obwohl ich mir eigentlich nichts darunter vorstellen kann. Als ich den Ersten öffne, zucke ich erschrocken zurück, denn der braune Frosch bewegt sich! Gerade bevor er entwischen kann, fange ich mich wieder und stecke ihn als ganzes in den Mund. In der Schachtel liegt auch eine Karte mit einem Bild dabei, aus dem Text auf der Rückseite erfahre ich, dass die abgebildete Frau Rowena Ravenclaw heißt und Gründerin von einem der Hogwarts-Häuser ist. Aber das erstaunlichste ist, dass sich ihr Bild bewegt! Mit offenem Mund starre ich auf die mir winkende Frau und kann meine Augen gar nicht von ihr wenden. Fast eine Viertelstunde beobachte ich sie, wie sie sich mal an der Nase kratzt und mal die Haare aus dem Gesicht streicht. Unfassbar!

Ich muss wohl eingedöst sein, dann irgendwann hält der Zug mit einem Ruck und ich schrecke auf. Ich stehe auf, um meinen Koffer zu nehmen, aber Layla hält mich auf: „Lass dein Gepäck hier, das wird später geholt.“ Ich kämpfe mich durch den Schülerstrom zur Zugtür und als ich auf dem Bahnsteig stehe, schaue ich mich neugierig um. „Erstklässler zu mir!“, höre ich da eine vertraute Stimme rufen und drehe mich in die Richtung. Mit Erleichterung stelle ich fest, dass dort Hagrid steht.
Kaum sind alle da, läuft er los und ich folge ihm, genau wie alle anderen neuen Schüler. Nach einigen Minuten Fußweg kommen wir an einem großen See an, auf dem schwarzen Wasser liegen unzählige kleine Boote. Sollen wir jetzt etwa über den See rudern? Doch als wir, immer zu viert, auf die Boote verteilt sind, fahren sie ohne unser Zutun von selbst los. Als ich meinen Schreck darüber überwunden habe, betrachte ich den Jungen und die zwei Mädchen, mit denen ich mir ein Boot teile. Der Junge sieht asiatisch aus, mit schwarzen Haaren, das eine Mädchen hat eine dichte blonde Lockenmähne, das andere ist sehr klein, noch mehr als ich, und hat dunkelbraune Haare. Bevor ich sie weiter mustern kann, wird meine Aufmerksamkeit durch die Überraschungslaute aus den umliegenden Booten wieder auf die Umgebung gelenkt. Schon wieder bleibt mir der Mund offen stehen, denn auf dem Felsen thront ein richtiges Schloss! Weit gefehlt mit dem „grauen Kasten“. Die Boote fahren jetzt in einen unterirdischen Tunnel, bis sie an einer Art Hafen ankommen. Alle steigen aus und folgen weiterhin Hagrid. Nach einigen Minuten kommen wir an die Oberfläche und noch ein wenig später sind wir an einem gewaltigen Schlosstor angelangt. Hagrid dreht sich um, wirft ein aufmunterndes Grinsen in die Runde und klopft an.

(Dez 2019)

Grün und Silber (Harry Potter FF, Next Generation)Où les histoires vivent. Découvrez maintenant