Anouk

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"Heute atme ich, doch was wird morgen sein?"

Ich bin Anouk, 17 Jahre alt und ich bediene wohl das typische Klischee einer lebensmüden Teenagerin, wie man sie in so manchen Romanen vorfindet. Theoretisch sollte ich mich nicht beklagen, ich habe liebevolle Eltern, ausreichend Geld und ganz auf den Kopf gefallen bin ich auch nicht. Doch praktisch sieht meine Situation natürlich ganz anders aus. Ich gehe zwar zu einem Psychologen, doch erzählen tue ich ihm nur das, was er hören will. So erzähle ich ihm einmal wöchentlich von all den schönen Dingen, die ich in der Zwischenzeit erlebte, von all den Fortschritten, die ich schon machen konnte und er bemerkt nicht, dass all dies gelogen ist. Schließlich rede ich nicht mit mir selbst darüber, wie es zu meiner bereits über vierjährigen Depression kam. Also wieso sollte ich einer mir unbekannten Person davon erzählen? Und seit meinem Selbstmordversuch vor zweieinhalb Jahren, sind auch meine Eltern der Meinung, es geht mir nun endlich wieder gut. Aber so ist es nicht. Mein früherer Aufenthalt in der Psychiatrie veränderte buchstäblich mein Leben. Oft schweife ich noch mit den Gedanken zurück in diese Zeit. In diese Zeit, in der ich Abends mit meinen Zimmermitbewohnern bis in die Nacht Geschichten erzählte, an die Zeit, in der ein Pfleger mit uns Spiele wie 'das Alphabet der Todesursachen' spielte und an eine Zeit, in der ich akzeptiert und gesehen wurde.

*Ding Dang Dong*

Für einen kurzen Augenblick sehe ich mich zunächst verwundert und desorientiert im Klassenzimmer um. Die Klingel, die das Ende des Unterrichtblocks und somit auch das Ende meines heutigen Tages verkündete, hatte mich so abrupt aus meinen Gedanken gerissen, dass ich ein wenig überwältigt war.

'Dass ich so sehr in meinen Gedanken versunken war...Hat es etwa damit zu tun, dass heute der finale Tag ist?'.

Dieser Tag wird der letzte Tag meines Lebens sein, an dem ich diese Klingel ertönen höre, es wird der letzte Tag sein, an dem ich unsichtbar existieren werde und es wird allgemein der letzte Tag meines Lebens sein. Nachdem ich seit Monaten lediglich Leere empfinde, flammt nun doch wieder eine kleine Flamme in mir auf. Mein Herz pocht wie wild, ich zittere und habe leichte Schweißausbrüche.

'Heute darf einfach nichts dazwischen kommen! Nein! Heute nicht!'.

Und so packe ich meine Schulsachen, verlasse das Klassenzimmer und letztendlich auch die Schule. Personen, die in Filmen zum letzten Mal einen Ort verlassen, drehen sich immer zum Abschied nochmal um. Aber ich nicht. Ich gehe stattdessen schnurstracks den Weg aus kaltem Beton entlang zur Bushaltestelle. Schließlich dort angekommen, lehne ich mich gegen die klebrige Glasscheibe der Bushaltestelle und bin gerade dabei mir die Kopfhörer in die Ohren zu stecken, da sehe ich die Straße hinüber zur anderen Seite einen jungen Mann. Er dürfte ein bis zwei Jahre älter sein als ich und steht scheinbar wie abwesend am Rande des Bürgersteigs. Hinter ihm blühen die Kirschblüten in ihren schönsten Rosa-Tönen und ich widme mich wieder meiner Musik. Während ich darüber nachdenke, welche Playlist ich die restliche Stunde meines Lebens hören möchte, sehe ich im Augenwinkel, wie der junge Mann, immernoch abwesend, auf die Straße geht. Mit zittrigen Beinen setzt er einen Fuß vor den anderen und riskiert überfahren zu werden. Jetzt erst kommt es mir in den Sinn.

'Das ist genau sein Ziel! Er möchte offenbar überfahren werden!'

Ich blicke zu ihm, reiße die Augen auf und werde mir langsam über die Situation klar. All die Menschen um uns herum stehen nur da, einige Achtklässler filmen diese riskante Aktion und niemand macht auch nur die kleinste Bewegung, um etwas zu unternehmen. Der Unbekannte ist nun mitten auf der Fahrbahn. Plötzlich rast ein Auto mit einer viel zu hohen Geschwindigkeit direkt auf ihn zu und kann nicht mehr rechtzeitig abbremsen.

'Was soll ich nur tun? Wird diese Situation etwas am Ausgang meiner Geschichte verändern?'

Als es Kirschblüten regnete [Woosung FF]Where stories live. Discover now