Naveen

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Er wusste, dass er sterben würde.

Der laute Schuss traf direkt in seinen Bauch und der abrupte Schmerz ließ ihn auf seine Knie fallen, die Pfütze unter ihn so rot wie reife Kirschen.
Irgendwo hatte er gelesen, dass Wissenschaftler herausfanden, in den letzten Minuten vor dem Tode würde man sich an seine schönsten Lebensabschnitte erinnern – doch das tat er nicht. Er erinnerte sich nicht an das Lächeln seiner Mutter, als er ihr einen kleinen Strauß Blumen pflückte. Er erinnerte sich nicht daran, wie er aufgeregt vor dem Krankenzimmer auf und ab hüpfte weil er es kaum erwarten konnte, das schrumpelige Gesicht seines kleinen Bruders zu sehen. Er erinnerte sich auch nicht daran, wie er das erste Mal in das Gesicht seiner zukünftigen Verlobten sah, und auch nicht an ihre strahlenden Augen, die viel mehr glitzerten als der Stein an ihrem Finger. Naveen erinnerte sich an nichts, was sein viel zu kurzes, doch glückliches Leben erfüllt hatte.
Das Einzige, was er spürte, war Schmerz, und er sah diesen weißgrauen, grellen Himmel, umrahmt von Dunkelheit.
Um ihn herum hörte er Schreie – nicht vor Schmerzen, doch vor Hilflosigkeit. Nicht nur ihr bester Schütze wurde getroffen, sondern auch ihr bester Freund. Ein Sohn, ein Bruder, ein werdender Vater.
„Bleib bei mir, bleib bei mir!"
John, der zu ihm gerannt war, flüsterte es ihm immer wieder ins Ohr, fast wie ein Mantra, und stützte Naveens Kopf ab, der sich immer schwerer anfühlte.
„Ich werde sterben."
Mit einer Träne, die über seine Wange rollte, schüttelte John schnell den Kopf. „Nein, das tust du mir nicht an. Du bleibst bei mir und wir werden das beide hier lebendig hinter uns bringen."
Naveen wusste, dass es eine Lüge war, denn sonst würde John nicht weinen oder seine klaffende Wunde so brennen. Seine kalten Hände fanden Johns Wange und er zog ihn näher zu sich.
„Sage ihr, dass ich sie liebe."
„Nein! Das... das wirst du ihr selber sagen."
Er schrie förmlich, doch er konnte so viel schreien wie er wollte, die Lider von Naveens Augen wurden immer schwerer und schwerer, bis sie sich ganz schlossen.
Naveen kämpfte und starb für ein Land, das nie für ihn gekämpft hatte oder es jemals tun würde.
Naveen lebte und liebte und er starb.

Er starb.
Er starb.
Er starb.

Ich.Where stories live. Discover now