Kapitel 5: Ein mutiger Schritt

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„Mike? Wir müssen hier weg, Mike!", du stehst jetzt ganz nah bei ihm. Ein Kribbeln läuft durch deinen Körper und du kannst nicht sagen, ob es vom tosenden Wind her kommt. Mike reagiert nicht. „Mike! Hörst du mich? Wir müssen hier weg! Dir kann es doch gar nicht so schlecht gehen, dass du hier draußen bleiben willst!", brüllst du verzweifelt gegen das Tosen des Windes und das Klatschen der Wellen an, die gegen euer Schiff schlagen.

Mike sieht dich mit weit aufgerissenen Augen an. „Ich wollte nie hierher. Rufus hat mich überredet, mir ging es so schlecht. Jetzt geht es mir besser, aber...aber ich...", du hörst ihn kaum so leise stammelt er vor sich hin.

Eine besonders heftige Welle klatscht gegen die Reling. Sie spritzt so hoch, dass ihr beide von oben bis unten durchnässt werdet. Du schmeckst Salz in deinem Mund. Verzweifelt nimmst du Mike am Arm. Eindringlich siehst du ihm in die Augen. „Wir müssen jetzt gehen!", schärfst du ihm ein.

Und da fängt Mike, der coole, beliebte Magic Mike tatsächlich an zu weinen. „Ich kann nicht schwimmen.", gesteht er leise, kaum hörbar durch das Pfeifen des Windes. Fassungslos starrst du ihn an. „Du kannst nicht schwimmen.", es ist eher eine Feststellung als eine Frage. Mike schüttelt den Kopf. Krampfhaft klammert er sich an die Reling. „Ich sag dir was: Dieses Schiff kann schwimmen. Und wenn du endlich mit mir unter Deck kommst, sind unsere Chancen gut, dass wir an Bord bleiben. Nun komm endlich!", herrschst du ihn ungeduldig an, deine Besorgnis steigt mit jeder Minute, die ihr länger hier draußen bleibt. Denn das Schiff scheint immer heftiger zu schwanken.

„Du kannst ja gehen, wenn dir etwas passiert, ist eh niemand traurig.", beleidigt dich Mike, der ganz offensichtlich nicht vorhat die Reling loszulassen. Die Worte treffen dich wie ein Schlag. Gibt es denn wirklich niemanden, der dich vermissen würde? Klar, beliebt warst du nie, aber mit einigen aus deiner Klasse verstehst du dich doch ganz gut. Man hilft sich gegenseitig. Man quatscht vor dem Unterricht. Aber würden sie dich auch vermissen? Du schüttelst den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden.

„Mir würde nichts passieren, wenn ich gehen würde.", stellst du klar. „Du hast es immer noch nicht verstanden, oder? Hier draußen bist du in viel größerer Gefahr als unter Deck!", brüllst du ihn an, härter als du beabsichtigt hattest.

Er hatte einen Schock. Er stand ganz bestimmt unter Schock, sonst würde er nicht so einen Unsinn reden, denkst du. Immerhin ist sein Freund gerade abgehauen und nicht deiner. Er hat keinen Grund, so mit dir zu reden. Aber man würde wohl ohnehin nicht vernünftig mit ihm reden können, solange er unter Schock steht.

Entschlossen siehst du dich um. Irgendetwas oder irgendjemand muss doch an Bord sein, das ihn davon überzeugen kann, die Reling loszulassen. Du lässt deinen Blick schweifen. In kurzer Zeit ist es sehr dunkel geworden, um dich herum. Du kannst kaum etwas erkennen, wenn nicht gerade ein Blitz die Dunkelheit durchzuckt.

Da endlich erspähst du einen Rettungsring, nur wenige Meter von dir entfernt an der Reling. Er ist am Schiff festgemacht. Du siehst zurück zu Mike. Er sieht nicht mehr so gut aus wie gewöhnlich. Seine Frisur ist zerstört, seine Kleidung durchnässt, seine Hände sind blau angelaufen und seine Augen sind weit aufgerissen. Das ist es, was dir am meisten Sorgen macht. Ob sich die Panik, die du in seinem Blick erkennst, durch den Rettungsring beruhigen lassen wird?

Du spurtest so schnell wie möglich zu dem Ring hinüber und hebst ihn aus seiner Verankerung. „Hier! Halt dich lieber daran fest, als an der Reling.", keuchst du, als du wieder bei Mike angekommen bist. Da leistet er deinen Bitten endlich Folge, umklammert den Ring und steht auf.

Doch ausgerechnet in diesem Moment wird das Schiff von einer weiteren, großen Welle emporgehoben und neigt sich leicht nach Backbord. Auf eure Seite. Mike, der gerade erst dabei ist aufzustehen, verliert das Gleichgewicht und fällt über die Reling ins Wasser. Entsetzt stehst du da und starrst die Stelle an, an der Mike gerade noch gestanden hat.

Für einen Moment bist du wie gelähmt. Tausend Gedanken rasen durch deinen Kopf, doch keinen davon kannst du fassen. So stehst du einfach nur wie angewurzelt da. Bis dein Blick auf die zuckelnde Leine fällt, die an der Stelle befestigt ist, an der du den Rettungsring gefunden hast.

Sofort stürzt du zur Reling. Unten im Meer erkennst du Mike. Den Rettungsring hält er noch immer fest umschlossen. Erleichterung durchströmt dich und mit ihr kehrt auch dein Mut zurück. „Mann über Bord!", brüllst du. „Mann über Bord!" Wo waren bloß all die Matrosen geblieben, die das Schiff bevölkert hatten? Du kannst keinen von ihnen erkennen.

Also versuchst du selbst, Mike wieder an Bord zu ziehen. Du packst das Seil und stemmst dich gegen die Wellen. Zentimeter um Zentimeter gelingt es dir, Mike heranzuziehen, doch das Seil scheint schier endlos. Aber du darfst nicht aufgeben! Es geht um Mike! Also ziehst du weiter. Noch ein Stück und dann noch eins.

Aus dem Augenwinkel siehst du eine Gestalt, einen Matrosen, der auf dich zugeeilt kommt. In diesem Moment geschieht das Unglück. Mit einem heftigen Ruck ziehen die Fluten dir das Seil aus den Händen, das an der Stelle, an der es festgebunden ist, reißt.

„Mike!", rufst du und noch ehe du weißt, was du tust, springst du dem Seil hinterher und bekommst es gerade noch zu fassen.

ENTKOMM! Wind und WellenWhere stories live. Discover now