XVI- Wie weit würdest du gehen?

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Das unheimliche Anwesen der Lestranges schweigt. Von außen scheint es fast so, als sei es verlassen. Doch die Lichter im Inneren erzählen etwas anderes.
Der Regen fällt im Strom auf die Erde hinab und bringt ein Gewitter mit sich. Als würde das Wetter die bedrohliche Stimmung im Inneren des Anwesens erhören.
Das Essen ist bereits serviert, die Todesser sind vollständig. Ihr Gebieter, der dunkle Lord, sitzt am Kopfende des Tisches, direkt gegenüber der Hausherrin. Die Sklaven stehen hinter ihren Herren. Die meisten von ihnen zittern aus Angst vor dem Mann, der Harry in Askaban gefangen hält. Doch sie wissen nicht, was Hermine weiß. Und die steht still hinter Bellatrix, verzieht nicht eine Miene und schaut zu Boden. Ihr leerer Blick lässt sich schwer deuten, wenn man die Hintergründe nicht kennt. Die Todesser glauben, sie sei gebrochen. Ihre Freunde auch.
Nur eine Frau am Tisch erkennt, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie besitzt so viel Empathie, dass es ihr nicht entgehen kann. Wie gerne wäre Hermine zu ihr rübergelaufen und hätte das Glas Wein neben dem Teller vor ihr zerschlagen. Wie gerne hätte sie ihr gesagt, was passiert ist ...
Aber es ist zu spät. In einigen Sekunden werden sie alles über die Rebellion wissen. Und sie werden jeden einzelnen Sklaven im Raum töten.
Luna
Seamus
Ron ...

Die Anwesenden heben die Gläser. Hermine schließt die Augen. Sie spürt Narzissas Blick auf sich und der Satz es tut mir leid ertönt immer wieder in ihrem Kopf. Innerlich hofft sie, dass Narzissa es hören kann und das Glas wegstellt. Doch das tut sie nicht. Sie zögert nur.

Hermine blickt auf, direkt in Narzissas Gesicht. Sie hat Tränen in den Augen und lächelt traurig. Hermine versinkt so stark in ihrer lautlosen Trauer, dass sie gar nicht merkt, dass Narzissas letzter Blick nicht ihr gewidmet war.
Dann, nachdem alle anderen bereits getrunken haben, führt auch Narzissa das Glas zu ihrem Mund und nimmt einen großen Schluck der dunkelroten Flüssigkeit zu sich.

"Harry Potter ist tot", verkündet der dunkle Lord plötzlich ganz ohne Vorwarnung. Ein Schlag in die Magengrube für jeden der hier anwesenden Sklaven. Nur Hermine hat gerade anderes im Kopf. Sie hat diesen Satz überhört. Das einzige, was sie in diesem Moment vernimmt, sind der Regen und das Gewitter von draußen.
Selbst das Klatschen, Jubeln und das Gelächter der Todesser bemerkt sie nicht. Für sie ist die Welt in dem Moment stehen geblieben, als Narzissa getrunken und damit ihr Schicksal besiegelt hat. Bald wirkt das Serum. Bald ist alles vorbei. 

Lucius ist der erste, dem etwas seltsames an Narzissa auffällt. Doch nicht etwa, weil sie plötzlich nur noch die Wahrheit sagt, sondern weil ihr etwas Blut aus der Nase läuft.
"Alles in Ordnung?", fragt er perplex.
Narzissa bemerkt das Blut und hält sich die Hand vor die Nase. Dann steht sie auf, taumelt einige Schritte rückwärts, bevor sie schließlich zu Boden fällt. Sie hustet und spuckt Blut auf den glänzenden Marmorboden.
Lucius rennt auf sie zu und schmeißt sich neben sie auf den Boden. Er hält ihr Haare und versucht sie irgendwie zu beruhigen, doch es funktioniert nicht. Ein Narr sondergleichen.

"Was passiert mit ihr? Bella?"
Lucius hat Tränen in den Augen. Bellatrix, Narzissas Schwester, hingegen lässt sich keinerlei Trauer anmerken. Sie hält dem stechenden Blick des dunklen Lords stand, der neben ihr, Hermine und Draco als einziger das Geschehen nicht beobachtet.
"Ich fürchte, einer deiner Hauselfen ist deiner Schwester nicht ganz wohlgesonnen?" Der dunkle Lord meint das natürlich nicht ernst. Er ahnt bereits, dass das hier Bellatrix' Verdienst ist.

"Ich habe ihr das Gift in den Wein getan", gibt Bella zu und erzürnt damit Lucius. Dieser sitzt immer noch mit seiner reglosen Frau im Arm auf dem Boden.
"Wieso hast du das getan?!", schreit er unter Tränen.

Mit einem Blick zu Hermine erhebt sich die Hausherrin. "Geh in die Küche und hol noch mehr Wein, Schlammblut. Aber den richtigen."
Ganz verstehen tut Hermine das nicht, aber es ist ihr nur recht. Denn als sie in der Küche ankommt, fällt sie sofort auf die kalten Fliesen und krümmt sich vor seelischem Schmerz. Sie unterdrückt ihre Angstschreie, während sie am ganzen Körper zittert.
Und während sie auf dem Boden liegt, weinend und leer, hat ein kleines Stück ihrer gebrochenen Seele immer noch nicht aufgegeben. Plötzlich wird sie ganz leise und lauscht dem, was Bellatrix zu sagen hat.

"Ich habe sie vor ein paar Tagen zu mir eingeladen, denn ich hatte eine Vorahnung, die sich leider bestätigt hat. Mit Hilfe von Veritaserum im Wein wurde meine Schwester sehr gesprächig. Sie, als ein Mitglied der Rebellion, erzählte mir alles, was sie über diesen Abschaum wusste."
Ein aufgeregtes Gemurmel geht durch die Reihen.
"Ruhe!", schreit der dunkle Lord und genau diese setzt daraufhin sofort ein.

"Jedenfalls ist es, wie wir vermutet haben. McGonagall leitet die Rebellion. Ihr Hauptquartier befindet sich in Paris, sie verstecken sich irgendwo unter den Muggeln. Da unsere Gegenspieler nicht dumm sind, lassen sie ihre Leute mit einem Portschlüssel anreisen und niemand außer McGonagall weiß wo genau sich das Versteck befindet. Narzissa konnte mir nur den Innenraum beschreiben. Demnach muss es ein kleines Haus sein. Aktuell sind sie 59 Hexen und Zauberer, doch sie wachsen. Und sie haben die beiden Idioten von Todessern entführt, von denen wir dachten, sie seien freiwillig abgehauen. Sie wollen sie umstimmen. Ach ja, bevor ich es vergesse, einige Sklaven waren in Paris, während wir die letzten Tage fort waren. Welche genau, kann ich nicht sagen, nur dass ich vermutlich die einzige bin, die ihre Sklavin unter Kontrolle hat."

"Sie wollen also die Unparteiischen?", fragt der dunkle Lord, obwohl er die Antwort schon kennt.
"So ist es."
"Und wieso hast du sie alleine befragt? Jetzt mal ehrlich, vielleicht erzählt sie uns scheiße", wirft Greyback ein, weshalb Bella ihm einen mörderischen Blick zuwirft. Lucius steht auf und kehrt zu den anderen zurück.
"Diese Frau ist verrückt und besessen von der Idee, unserem Lord zu mehr Macht zu verhelfen. Und zwar viel mehr als wir alle zusammen. Sie hat gerade ihre eigene Schwester, meine Frau umgebracht. Nenne mir einen Grund, Greyback, wieso sie uns nun anlügen sollte." Man erkennt an Lucius Stimmlage, das er bei jeder falschen Antwort, die Greyback gibt, hochgehen wird. Deshalb entscheidet auch er sich zu schweigen.

"Gute Arbeit Bella. Aber das nächste Mal solltest du uns auch etwas Spaß lassen", sagt der dunkle Lord mit einem Lächeln auf den Lippen. Bellatrix erwidert das Lächeln.  Dann steht der dunkle Lord auf und seine Anhänger erheben sich ebenfalls.
"Dann lasst uns unseren kleinen Freunden in Paris mal einen Besuch abstatten. Aber zuerst ..." Er zückt seinen Zauberstab. "Avada Kedavra!"

Der grünen Blitze zucken durch den Raum und treffen einen Sklaven nach dem anderen. Dann wendet sich der Meister noch einmal an die Hausherrin. "Und du bist dir sicher, dass deine nichts damit zu tun hat?"
"Wäre sie dort gewesen, hätte sie es wohl kaum geschafft, die ganze Bibliothek aufzuräumen. Und ich habe Narzissa natürlich dazu befragt."
"Vielleicht sollten wir sie trotzdem umbringen, nur zur Sicherheit", ruft Greyback während er auf die Küchentür zugeht.
"Ist da jemand wütend, weil er keine Sexsklavin mehr hat?"
Als Bellatrix diese Worte ausspricht, bekommt sie direkt Greybacks volle Aufmerksamkeit.
"Weißt du was? Fi-"
"Kinder, ich bitte euch. Euer Lord ist anwesend", sagt Lucius mit erschreckend ruhiger und fester Stimme. Doch der dunkle Lord ist mit etwas ganz anderem beschäftigt. Er mustert Draco, der sich nicht einmal zu seiner Mutter umgedreht hat und noch immer zitternd auf seinem Stuhl sitzt.

"Was ist mit dir, Draco? Wie loyal bist du?", fragt Dracos Meister, woraufhin er einen Kloß im Hals herunterschluckt. "Ich würde Euch nie hintergehen", antwortet er.
"Das finden wir noch heraus." Schließlich richtet er sein Wort wieder an alle. "Informieren wir den Rest und brechen dann auf."
Mit diesen Worten verlassen alle Todesser das Anwesen und Hermine, die immer noch reglos auf dem Boden liegt, kann endlich alles, was sie bis gerade zurückhalten musste, herausschreien.

Ein verzweifelter Schrei nach Hilfe.

Und schließlich fragt Hermine sich, wie weit diese Frau noch gehen würde, um des dunklen Lords Anerkennung zu bekommen.
Doch die bessere Frage ist wohl, ob sie überhaupt noch weiter gehen kann.

Und dann, ganz plötzlich, wird Hermine etwas klar.
Etwas, das alles verändert.
Etwas, das ihre Hoffnung wieder neu erblühen lässt.

Captured - FearOù les histoires vivent. Découvrez maintenant