Herzenssache

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Ich saß immer noch am Bach, als ich Schritte näherkommen hörte. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass es Takashi war. Er wirkte nachdenklich gestimmt. Still setzte er sich neben mich. Es dauerte ein paar Sekunden, bevor er das Wort an mich richtete: „Schon überwältigend, wie viele Geheimnisse sich hier vor der Welt verbergen. Zwar wusste jeder, dass es magische Wesen gibt, doch niemandem war bewusst, dass es auch Menschen mit der Gabe der Magie gibt." Erstaunt sah ich ihn an. „Woher weißt du das?", erkundigte ich mich neugierig und wandte mich zu ihm. Auch er sah mich an. Dann grinste er und meinte: „Ich bin nicht nur auf der faulen Haut gelegen, als du weg warst. Eine ältere Frau namens Miyu hat mir alles erklärt. Nun ja, fast alles. Warum ich hier bin, weiß ich immer noch nicht. Denn im Gegensatz zu jedem anderen hier trage ich keinen Funken Magie in mir." Er sah schweigend dem Bach zu, der beständig vor sich hin strömte und ein leises, angenehmes Rauschen erzeugte. Es wirkte so, als würde ihn etwas beschäftigen. Deswegen legte ich sanft meine Hand auf seine Schulter und fragte sanft: „Was ist los?"

Eine Weile kam nichts von ihm, er ließ seinen Blick immer noch auf den Bach gerichtet. Schließlich fing er an, mit betretener Stimme zu reden: „Alles hat sich geändert, und das so schnell. Vor ein paar Tagen dachte ich noch, dass es mein einziges Problem wäre, dass eventuell Hoshoku-sha auftauchen könnte. Nun soll ich irgendein Schicksal erfüllen, von dem ich keine Ahnung habe. Und nun verfolgen mich auch die Bilder, die sich mir in den Schatten dieses vermaledeiten Waldes geboten hatten." Erschöpft ließ er die Schultern hängen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. „Ich vermisse Hisho. Er war mir all die Jahre mehr ein Vater als mein echter Vater. Anfangs habe ich versucht, mich selbst davon zu überzeugen, dass ich ihn immer weniger vermissen würde. Doch es tut immer noch genauso weh."

Tröstend strich ich ihm über den Rücken und rückte etwas näher an ihn heran. „Glaub mir, ich kenne das Gefühl.", versicherte ich ihm leise. „Auch ich musste urplötzlich mein Zuhause verlassen. Und gleichzeitig habe ich meine Großmutter verloren. Nur wenig später teilt mir im Traum jemand mit, dass ich ebenfalls ein Schicksal zu erfüllen hätte. Und jetzt erfahren ich, dass meine Großmutter hier Magie studiert hat und sie meine Magie weggesperrt hat. Auch wenn ich sie immer noch über alles liebe, so stellt sich mir doch die entscheidende Frage, warum sie das getan hat."

Für eine kurze Zeit waren das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Blätter und das Rauschen des Baches die einzigen Geräusche. Dann räusperte sich Takashi und wandte sich wieder mir zu. Seine Augen glänzten verräterisch feucht. Mit rauer Stimme meinte er: „Wie kannst du nach alldem, was dir widerfahren ist so glücklich sein? Hisho ist nicht einmal tot und trotzdem zerreißt es mich, dass ich so weit von ihm weg bin. Wie kannst du nicht an alldem, was du ertragen musstest, zerbrechen?" Er klang beinahe ehrfürchtig. „Auch ich bin nicht immer glücklich.", fing ich an zu erklären. „In vielen Nächten habe ich mich in den Schlaf geweint. In vielen Träumen hörte die Schmerzensschreie meiner Großmutter, als ihre Seele gewaltsam von der Dunkelheit verzehrt wurde. Tag für Tag plagen mich die Zweifel, ob ich dem, was auch immer auf mich zukommen mag, wirklich gewachsen bin. Und das ist menschlich. Gefühle verlangen danach, beachtet zu werden. Sie sind nicht dazu da, zurückgedrängt zu werden. Je länger man seine Gefühle versucht, wegzuschließen, desto erbarmungsloser werden sie sein, wenn sie dich dann schließlich überwältigen. Wenn du traurig bist, lass den Tränen freien Lauf. Denn wenn sie versiegen, hat das Glück wieder Platz, in dein Leben zu treten. Trauer wird immer wieder von dir Besitz ergreifen. Lass sie gewähren, damit irgendwann ihr Griff wieder lockerer wird."

Während meiner Rede hatten sich auch in meinen Augen Tränen gebildet. Nass rannen sie meine Wange hinunter, um dann lautlos auf den Boden zu fallen. „Du bist so stark und weise.", stellte Takashi beeindruckt fest. Seine Miene verhärtete sich, dann setzte er verbittert hinterher: „Und ich bin schwach und jammere hier wegen Heimweh wie ein kleiner Junge. Genau wie mein Vater immer gesagt hat." „Nein nein nein!", widersprach ich vehement. „Du bist nicht schwach, nur weil du Gefühle hast. Hör nicht auf das, was dein Vater dir gesagt hat. Lass all die bösen Gedanken, die er dir in den Kopf gesetzt hat, keinen Einfluss haben. Hör auf dein Herz, dann bist du auf dem richtigen Weg."

Für ein paar Herzschläge sahen wir einander nur in die Augen. Dann flüsterte Takashi: „Dann fange ich jetzt damit an, auf mein Herz zu hören." Sein Blick intensivierte sich. Mein Herz fing an, wie wild in meiner Brust zu pochen und in meinem Bauch kribbelte es. Langsam kam Takashis Gesicht meinem näher, bis sich unsere Lippen sanft berührten. Sie waren rau und spröde von der langen Zeit draußen, aber es war trotzdem eines der schönsten Gefühle, die ich je hatte. Als er sich wieder ein wenig von mir entfernte, sah er mich unsicher an. Ohne mein Zutun breitete sich ein breites Lächeln auf meinen Lippen aus. Ich rückte näher zu ihm heran und lehnte mich vertrauensvoll an ihn. Er ließ es zu und schlang einen Arm um mich.

Eine Zeit lang saßen wir so an dem Bach. Wir schwiegen, da Worte gerade überflüssig waren. Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das Blätterdach und brachten das Wasser des Baches zum Glitzern. Hina hatte wohl doch recht gehabt. Zumindest hatte ich das Gefühl, dass er mich lieben würde. Doch klar war, dass ich ihn in der Zeit, in der ich ihn kennengelernt hatte, auch lieben gelernt hatte. Ob das für ihn auch galt, konnte ich nicht beantworten. Aber die Tatsache, dass wir so vertraut nebeneinander saßen, sprach für sich. „Wieso bist du so klug und offen?", fragte mich Takashi aus dem Nichts heraus. „Meine Großmutter hat mir ihre ganze Weisheit mit auf den Weg gegeben. Auch wenn ihre Seele nicht mehr über mich wacht, weiß ich, dass sie wollen würde, dass ich glücklich werde und immer mit Liebe und Stolz auf meine Zeit mit ihr zurückblicke. Selbst wenn sich die Trauer wie eine Art Nebel über die Erinnerungen an sie gelegt hat, so überwiegt doch das Glück." Er nickte und sah nachdenklich in die Ferne. Auch ich widmete mich meinen Gedanken.

Mir fiel ein, dass Takashi mit keinem Wort je seine Mutter erwähnt hatte. Deshalb fragte ich vorsichtig: „Was ist mit deiner Mutter?" „Sie ist bei meiner Geburt gestorben.", erwiderte er tonlos. Stur starrte er geradeaus. Aber ich merkte, dass er mit der Schuld kämpfte. „Auch wenn dir das bestimmt schon jemand gesagt: Der Tod deiner Mutter ist sicher nicht deine Schuld. Mittlerweile kenne ich dich, Takashi, und ich weiß, dass du nie jemandem etwas absichtlich tun würdest. Selbst wenn du verzweifelt versuchst, kalt und distanziert zu sein, dein weiches Herz wird sich immer durchsetzen. Und ein weiches Herz ist das Reinste und Schönste, was es auf dieser Welt gibt.", ermutigte ich ihn energisch. „Danke.", flüsterte er erstickt. Als er mich ansah, glänzte sein Gesicht tränennass. „Das war eines der schönsten Dinge, die je jemand zu mir gesagt hat. Yuna, auch wenn du meine Welt gehörig auf den Kopf gestellt hast: Ich will dich trotzdem an meiner Seite haben." „Dann bleibe ich bei dir und du bei mir. Gemeinsam werden wir selbst die dunkelsten Stunden überstehen."


Die letzte Kitsune [wird neu geschrieben]Where stories live. Discover now