Das schwarz, blaue Bonbon

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Sie liebte den Anblick, der sich ihr nur im Herbst bot, wenn sie aus der Tür trat. Die Blätter der alten Kastanie vor dem Haus hatten sich bereits rot gefärbt. Sie tanzten mit dem leichten Wind, während die Sonne ihren höchsten Punkt amHimmel bereits verlassen hatte und dem Baum von der Seite ihr warmes Lichtschenkte.

Das Mädchen nahm sich einen kleinen Moment Zeit und ließ ihren Blick überdie malerische Straße der Kleinstadt wandern, in der sie zu Hause war. Über die kleinen Häuser, mit ihren leicht schiefen Fensterläden, welche sichträge im Wind bewegten. Über die Straße, die mit grauem Kopfsteinpflasterausgelegt war. Zwischen den viereckigen Steinen wuchs ab und zu einGrashalm oder ein einsames, gelbes Hungerblümchen hervor.

Die Menschen, die an ihr vorüber liefen, nickten nur mit dem Kopf, manchegrüßten freundlich. Sie erwiderte den Gruß lächelnd und beschloss, sich schnellauf den Weg zu machen, denn sie hatte nicht viel Zeit.

Ihre Beine trugen sie Richtung Stadtmitte, in der sich viele kleine Läden dichtan dicht drängten und Straßenkünstler ihre Musik erklingen ließen.

Aus einer Bäckerei wehte ihr der verführerische Duft von frischen Waffeln undZuckerkuchen entgegen.

Schon von Weitem konnte sie die rosafarbene Markise von Lizzy's Bonbonladenerkennen. Sie leuchtete hell zwischen den anderen hervor. Seit Chris mit hier hergezogen war, kannte und liebte sie Lizzy's Laden mit allden kleinen, bunten Köstlichkeiten, die sich in unzählig vielen Regalen dicht andicht reihten.

Als sie den Laden betrat, strömte ihr eine Wolke aus Gerüchenentgegen und es umfing sie eine behagliche Wärme.

Zwischen den vielen Regalen entdeckte sie Liz, die wie so oft mit einer großenTasse Tee in der Hand hinter ihrem Tresen saß, der die Ausmaße einesgigantischen Himbeerbonbons hatte. Sie lächelte Chris warmherzig an unddiese glaubte, einen Anflug von Aufregung in ihren Zügen zu entdecken. „Chris! Wie schön dich zu sehen. Wie lange warst du schon nicht mehr hier?", begrüßte die Ladenbesitzerin sie und verließ ihren Platz hinter dem Tresen, umsie in die Arme zu schließen. „Hallo Liz! Ja es ist so schön, dich und deine Bonbons wiederzusehen. Ohne euch hat mir tatsächlich etwas gefehlt", antwortete Chris und drückte Liz fest.

„Du hast mir bei deinem letzten Besuch doch von deiner Liebe zu Blaubeerenund Lakritze vorgeschwärmt. Stell dir vor, ich habe es geschafft, daraus einBonbon zu kreieren", fing sie mit ihrer samtartigen Stimme an zu erzählen,während sie Chris in einen Teil des Ladens begleitete, der für ihre neuestenBonbons gedacht war.

Hier standen auf den hölzernen Regalen große Glasbehälter, die jeweils mit einem Etikett in den verschiedensten Farbenversehen waren.

Chris liebte diese Ecke, denn immer, wenn sie sich zu diesen Regalen begab, konnte sie sich sicher sein, dass Liz es geschafft hatte, neue Meisterwerke zu erschaffen. Die Ladenbesitzerin führte ihre Freundin zu einem der Gläser, in welchem sichtropfenförmige Bonbons befanden, die in ein schwarzes, mit blauen Streifenverziertes Papier gewickelt waren. Chris besah sich das Papier genauer. Es erinnerte sie an etwas, doch sie konnte nicht genau sagen woran.

Liz hatte derweil das Glas geöffnet und eine der neuen Süßigkeiten herausgenommen.

Das Papier glänzte in dem Licht der Lampen, die von der Decke hingen und ihr schönes Licht verbreiteten. Und da kam es ihr in den Sinn. Wie ein greller Blitz zuckte die Erkenntnis durch ihren Geist und ließ ein kribbelndes Gefühl von Unsicherheit zurück.

Die Farben stimmten mit dem Brief überein, den sie gerade noch in den Händen gehalten hatte und welcher nun sicher in ihrer Tasche verwahrt war.

Ihr Blick wanderte suchend durch den Laden, doch konnte sie weder ihren Bruder entdecken, noch wusste sie, ob sie ihren Bruder hier finden konnte.

In ihr breitete sich das Gefühl von Enttäuschung aus. Wie sehr hatte siegehofft, dass die Zeilen tatsächlich von ihrem Bruder geschrieben wordenwaren und sie ihn nach all der Zeit endlich wieder in die Arme schließenkonnte, doch es blieb wohl nichts weiter als eine Hoffnung.

Ein weißer Punkt auf einer schwarzen Leinwand.

Sie wickelte das Bonbon in ihrer Hand aus dem Papier und schob es sich in denMund. Der saure und zugleich süße Geschmack der Blaubeere vereinte sich mit der herben Würze von Lakritze und wurde zu einer Geschmacksexplosion aufihrer Zunge, während sich das Brausepulver prickelnd verbreitete.

Chris sah auf das Papier in ihrer Hand und ihre buschigen Augenbrauen zogensich zusammen, sodass eine steile Falte auf ihrer glatten Haut erschien.

Verwirrt strich sie das glänzende Papier glatt und sah mit einer Mischung aus Erstaunen und Unschlüssigkeit auf die weiße Schrift, die so eben auf der Innenseite erschienen war.


Gib nicht auf.

Lasse dich von des Löwens Augen leiten.

Vertraue mir.

Nik


Mit zitternden Fingern steckte sie das glänzende Einwickelpapier in ihre Tasche.

 In ihrem Geist begann sich eine Idee zu formen, welchen Löwen er gemeinthaben könnte, doch war dort dieses bleierne Gefühl, das sie daran hindernwollte, dieser Idee nach zugehen. Chris vertraute ihrem Bruder. Doch wer sagteihr, dass erst der Brief und nun diese Nachricht von Niklas stammten?

Sie wog die verschiedenen Möglichkeiten ab. Doch am Ende war es egal, was ihr Verstand sagte, ihr Herz hatte sich schon längst entschieden.

Als Chris sich nach Liz umdrehte, war diese bereits verschwunden und sie beschlich das leise Gefühl, dass die nette Ladenbesitzerin in dieses Rätsel mehr verstrickt war, als sie gedacht hatte. Von dem Ladenglöckchen war ein leises Klingeln vernehmbar, als sie den Ladenverließ und unter der Markise heraus in die kühle Nachmittagsluft trat.

Sie hatte sich entschieden. Sie würde den Löwen aufsuchen und seinem Blick folgen.


~Blue

Die Welt des AnderenWhere stories live. Discover now