"Genau drei Jahre her" Die Erklärung

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Die schwarzen Haare, die ihren glichen, fielen dem Jungen glatt auf die Schultern. Er trug vergleichsweise normale Sachen und Chris musste feststellen, dass er sich kaum verändert hatte. Sie hatte jeden Tag gewartet und auf irgend ein Lebenszeichen von ihm gehofft. Und nun, nach drei Jahren war es endlich so weit. Jetzt stand sie vor ihm und wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

Einerseits war sie unendlich erleichtert, dass es ihm gut ging und andererseits war sie wütend, dass er sich so lange nicht gemeldet hatte. Chris schob all ihre Gedanken in den Hintergrund. Ihrem Bruder ging es gut, das war die Hauptsache. Wütend konnte sie auch später sein. Sie lief auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Oberkörper. „Nik", mehr als seinen Namen brachte sie nicht über ihre Lippen. Sie war unendlich glücklich.

Glücklich darüber, dass es ihrem Bruder gut ging. Glücklich, weil sie ihn endlich in die Arme schließen konnte und es sich so gut anfühlte. Glücklich, weil sie an diesem Ort war.

Tränen der Freude bahnten sich ihren Weg über ihr Gesicht und hinterließen heiße Spuren. „Hey Chris. Ich bin hier, ich bin doch hier", sagte Nik beruhigend und als Chris seine tiefe und ruhige Stimme hörte, konnte sie es immer noch nicht richtig glauben. Sie war hier bei ihm. Es war kein Traum. Das alles hier war echt. Die Last der letzten Jahre viel von ihr ab. Sie fühlte sich leicht. Es war alles gut. Nik war da.

„Wo warst du?", fragte sie mit heiserer Stimme, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden ihn aus ihren Armen zu entlassen. „Komm. Ich erzähle dir alles bei einem Tee in meiner Wohnung. Hier ist nicht der richtige Ort dafür", antwortete Nik und löste sich vorsichtig aus ihrer Umarmung. Sofort fehlte ihr die Wärme, welche er ausstrahlte, doch sie sagte nichts, fuhr sich nur einmal mit ihrer schmalen Hand über die Augen und nickte. Sie hatte das Gefühl, wieder ein kleines Kind zu sein, welches die Welt und ihre Orte erst noch verstehen und kennenlernen musste.

Ihr Bruder führte sie durch viele kleine Gassen, die von Ständen gesäumt waren, bis hin zu einer größeren Straße, auf der es plötzlich keine Stände mehr gab. Rechts und links der Pflastersteine ragten kleinere und größere Häuser in den Himmel. Während die unteren Stockwerke meist zu Geschäften gehörten, sahen die oberen so aus, als wären sie bewohnt. Bunte Blumenkästen hingen an den Fensterbrettern und aus einem offenen Fenster glaubte Chris die sanften Klänge einer Violine zu vernehmen. Sie hätte am liebsten sofort all die Fragen gestellt, die ihr schon lange auf der Zunge brannten, doch sie übte sich in Geduld. Nik würde es ihr sicherlich gleich erklären.

Seine Schritte wurden nun langsamer und er kam vor einem himmelblau gestrichenem Haus zum Stehen. Der Putz blätterte an manchen Stellen von den Wänden ab und verlieh dem ganzen einen gewissen Charme. Nik öffnete die dunkle Haustür und Chris folgte ihm einige Treppen hinauf, bis zu einer grün gestrichenen Wohnungstür.

Als sie über die Schwelle trat, empfing sie ein Geruch, den sie sofort mit ihrem Bruder in Verbindung brachte: Vanille und Waldmeister. Nik liebte diesen Tee und dies schien sich auch in den drei Jahren nicht geändert zu haben. Die Wohnung war recht klein, aber dafür umso gemütlicher. Die Eingangstür führte direkt in das Wohnzimmer, in der sich auch die kleine Küchenzeile befand. Die Wände waren in einem warmen Beige gestrichen und an ihnen hingen unzählige Bilder.

Nik ging zu dem Herd und setzte Wasser auf, dann kam er wieder zu Chris herüber und zeigte mit einer einladenden Geste auf das braune Sofa, das an der Wand gegenüber stand. „Hier kann ich dir in Ruhe erzählen, was passiert ist", sagte er und ließ sich in das weiche Polster sinken. Chris tat es im gleich und sah ihren Bruder erwartungsvoll an.

„Heute ist es genau drei Jahre her, seit ich dich und Mutter verlassen habe. Es gibt keinen Tag, an dem ich euch nicht vermisse, aber ich bereue meine Entscheidung nicht. Damals war ich in der Stadt unterwegs. Ich sollte etwas für Mutter besorgen und kam dabei an dem Teegeschäft vorbei. Wir konnten uns den Tee zwar nur ganz selten leisten, aber ich liebe das Geschäft einfach. Also bin ich hinein gegangen. Am Anfang sah alles noch normal aus. Die grünen Wände und die Tische, doch dann fiel mir eine Tür auf, die ich noch nie gesehen hatte. Auch George war nirgends zu sehen. Ich war neugierig, also habe ich die Tür geöffnet und in den Raum dahinter gesehen."

„Ist George der Verkäufer, der mich zu dir geführt hat?", unterbrach Chris die Erzählung. Sie fühlte sich schlecht, weil sie sich nicht bei dem Verkäufer bedankt oder sich zumindest verabschiedet hatte.

Nik nickte: „Ja. Er ist der Wächter der Pforte und ein sehr guter Freund von mir. Er hat mich hier herumgeführt und mir geholfen, mich einzuleben. Das erste Mal, dass ich ihn getroffen habe, war genau vor drei Jahren. Wie gesagt, an diesem Tag sah ich in den Raum hinter der braunen Tür, doch alles was ich sehen konnte, war Dunkelheit. Es erschien mir seltsam, da sonst im ganzen Laden ausreichend Licht war. Also ging ich hinein. Weißt du noch, was ich dir geschrieben habe? Das Licht am Ende des Tunnels? In dem Moment hat es genau so ausgesehen. Ich glaube, du hast dich heute genau so gefühlt, als du aus der Pforte getreten bist. Es ist überwältigend und wunderschön, aber es ist auch komisch zu wissen, dass da noch eine andere Welt ist, die wir nicht bemerkt haben, obwohl sie direkt vor uns liegt. Dann traf ich auf George. Er war erst ziemlich wütend, doch dann hat er gemerkt, dass er es nicht mehr ändern kann und war ziemlich freundlich. Er hat sich Zeit genommen und mir alles erklärt. Doch dann hat er mich vor ein Ultimatum gestellt. Es durfte niemand von dieser Welt erfahren. Deshalb sollte ich mich zwischen dir und Mutter und dieser Welt entscheiden. Ich habe lange überlegt. Pro und Contra gegenübergestellt. Es ist mir wirklich nicht leicht gefallen. Glaub mir. Ich wollte zu euch zurück. Das musst du mir glauben!"

Chris wusste nicht, was sie denken sollte. Ihr Bruder hatte die Wahl gehabt.

Zwischen ihr und diesem Ort. Er hatte sich nicht für Chris und ihre Mutter entschieden. Damit hatte Nik sie mehr verletzt, als sie je zugeben würde.

Sie dachte an die Zeit zurück, in der sie mit ihrem Bruder noch zusammen gelebt hatte. War ihm diese Zeit überhaupt nichts wert?


~Blue

Die Welt des AnderenTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang