ELF - Nächtlicher Ausflug

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ELF


Mein Traum war unscharf und traumatisierend gewesen. Ich war auf einer schwarzen Klippe gesessen. Neben mir hatte der König gestanden, doch dieses Mal war er nicht schön gewesen. Er hatte sich in der ganzen Hässlichkeit seines Charakters gezeigt. Sein Gesicht war fürchterlich verunstaltet gewesen und das Mondlicht hatte gespenstige Schatten darauf geworfen.

Er war so dicht an mir gestanden, dass ich das schwarze Blut, das durch seine Adern floss, rauschen hören konnte. Er hatte eine Hand auf meine Schulter gelegt und die Landschaft vor mir hatte geflackert. Sie hatte bloss aus Stein bestehen müssen. Der Mond war hoch am Himmel gestanden.

„Ich bin der rechtmässige Herrscher", hatte der Wind geflüstert.

Der König hatte sich zu mir hinab gebeugt. Auf seinen zerschundenen Lippen war ein fürchterliches Lächeln gelegen. Er hatte mich ein paar Sekunden lang in die Augen gestarrt, bevor er seinen Mund auf meinen gepresst hatte.

Ich hatte seinen Schmerz und Zorn gespürt, als wäre es mein eigener. Ich hatte seine Seele ertasten können. Ich hatte sie rabenschwarz in meinen Händen gehalten.

Das Rascheln der Wälder riss mich aus diesem Traum. Schweratmend lag ich auf dem Rücken und starrte in die Äste über meinem Kopf. Wäre doch Rena hier, um mir zu sagen, dass es bloss einer von vielen Albträumen gewesen war. Sie hätte mich bestimmt beruhigen können. Doch stattdessen lag ich im Wald vor Tonars Zelt. Er hatte mich einfach davor abgeladen und mir eine Decke übergeworfen, bevor er in seinem Zelt verschwunden war. Ich hatte sein Schnarchen bis nach draussen gehört und es hatte mich eine ganze Weile vom Schlafen abgehalten.

Ich konnte seinen ruhigen Atem durch die Zeltwand hören. Mein Abscheu diesen Menschen gegenüber hatte sich über Nacht vermehrt und in meinen Gedanken hatte ich es längst aus diesem Lager geschafft.

Ich rannte schon längst durch die Nacht. Ich hatte mehrere Meilen hinter mir gelassen und war schon auf einen Weg gelangt. Ich trat längst aus dem Schatten der Bäume und vor mir lag der ruhige See. In ihm spiegelte sich das Schloss und es schimmerte wie flüssiges Silber im Mondlicht.

Die Nacht lag wie ein dunkler Schatten über dem Land und ich konnte kaum einen Meter weit blicken. Ich rollte mich zur Seite und stiess dabei schmerzhaft gegen einen spitzen Stein. Niemand war draussen. Alle schienen in ihren Zeltern zu liegen und zu schlafen. Sie schliefen viel zu ruhig, dafür dass sie letzte Nacht so erbarmungslos getötet hatten. Kein schlechtes Gewissen und keine Albträume quälten sie. Ihr Schlaf war friedlich und tief. 

Ich überlegte mir, ob ich mich nicht einfach klangheimlich davon schleichen konnte. Vielleicht konnte ich irgendwie meine Fesseln lösen.

Meine Haare hatten sich schon so verknotet, dass ich befürchtete, dass ich sie abrasieren musste. Einzelne verfilzte Haarsträhnen hingen mir in die Augen und meine Kopfhaut juckte. Es war kaum zu ertragen. Ich fühlte mich schmutzig und hätte mich am liebsten gewaschen.

Ich hatte beinahe alle gelben Bänder verloren, die Fiona mir in die Haare geflochten hatte, und das Kleid war starr vor Dreck. Nasse Erde klebte an meinen Beinen und meinem Gesicht.

Obwohl ich mich nicht besonders kräftig fühlte, beschloss ich, dass es nicht schaden würde, einen Fluchtversuch zu unternehmen. In mir brannte der Wunsch endlich nach Hause zu gelangen. Er war so schmerzlich und sass so tief, dass ich mir keine Gedanken um die Konsequenzen machte, falls ich erwischt werden würde.

Ich versuchte, mich mit den Schultern aufzustemmen, und spürte, wie meine Muskeln brannten. Es war keine besonders gute Idee.

Ich war zu zerbrechlich und brach klaglos zusammen. Ich würde nicht einmal drei Schritte weit kommen, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Ich musste unbedingt meine Fesseln los kriegen.

Seidenfaden - ein Reich aus Asche und BlutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt