2 - Lenzmond

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Vestervig, Nordjütland

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Salka kniete schluchzend vor dem Hörgr-Stein im grossen Tempel von Vestervig. Ihre Klagerufe waren bis zum Vorplatz zu hören. Sie weinte bitterlich, während sie die Götter anflehte. Ihre hüftlangen, blonden Haare hingen ihr ungekämmt ins Gesicht. Hier und da hatten sich sogar erste Knoten in ihren Goldsträhnen gebildet. Eine Weile musste es her gewesen sein, seit sie sich das letzte Mal aufgefrischt hatte.

„Erbarmt euch meiner! Ich ertrage es nicht mehr. Odin, ich flehe dich an, bei meinem eigenen Leben, zeige Gnade und Gerechtigkeit!"

Mit zittrigen Händen legte sie ihre Opfergaben - ein Bündel frischer Kräuter und Schweinefett - in die Schale vor sich und versank in ein Gebet. Nur wenig Licht drang von aussen in die Halle. Einige Fackeln, die an den Wänden befestigt worden waren, flackerten unruhig und warfen tanzende Schatten auf den Boden.

„Bitte, erhöre mich", beendete Salka ihren inneren Monolog, doch ihre Stimme versagte und sie brach in sich zusammen.

Wimmernd lag sie vor dem Altarstein und murmelte immer und immer wieder die gleichen Worte vor sich hin:

„Bitte, bringt ihn mir zurück! Bitte, bringt sie mir zurück!"

Die Tempeldiener im Saal blickten irritiert zu ihr herüber. Der mit roten Runen verzierte Hörgr-Stein blickte kalt und stumm zurück, so als sei ihm das Leid der Menschen vor ihm völlig einerlei.

Salka war verzweifelt. So sehr hatte sie auf die Hilfe der Götter gehofft, aber wie es schien, übersahen sie ihr Leid und liessen sie in ihrem Schmerz und in ihrer Trauer allein. Ein weiterer Heulkrampf überkam sie und sie rollte sich auf dem Boden zu einer Kugel zusammen.

„Wie konntet ihr nur!", kreischte sie schrill.

Die Diener schlenderten in ihren weissen, knöchellangen Gewändern aus dem Tempel und liessen die schluchzende Frau alleine zurück. Niemand sonst hatte sich an diesem Tag in die Weihestätte gewagt.

„Salka?", ertönte eine Stimme.

Der stämmige Hjalmar war in den Tempel gekommen, denn seit Tagen ging seine Frau jeden Morgen in die kühle Halle, um die Götter um Gnade zu bitten. Mit langsamen Schritten näherte sich der bärtige Jütländer seiner schluchzenden Frau.

„Komm, steh auf."

„Ich kann nicht...", schluchzte sie.

„Bitte, steh auf."

„Ich habe keine Kraft, Hjalmar."

Er streckte ihr seine grosse Hand hin.

„Komm."

Sie griff nicht nach seiner Hand, sondern setzte sich wieder auf die Knie und starrte mit aufgequollenem Gesicht auf den Altarstein vor ihr.

„Wie konnten die Götter nur... mein Rurik!", krächzte sie.

Hjalmar seufzte, denn es schmerzte ihn, seine Frau so leiden zu sehen.

Vor wenigen Tagen waren sie von ihrem Ausflug aus Viborg zurückgekehrt und hatten Salkas Bruder, Rurik, in seinem eigenen Blut auf dem Boden ihres Hauses aufgefunden. Niedergestochen mit dem Dolch, welchen sie ihrer Gehilfin - Aveline - geschenkt hatten. Diese war seither spurlos verschwunden. Niemand wusste, was geschehen war.

Die zwei besten Freunde von Rurik, Loki und Audgisil, hatten im umliegenden Wald und im Nachbardorf nach einem Lebenszeichen der Fränkin gesucht, aber sie war wie vom Erdboden verschluckt. Nach langer Suche bis in die späte Nacht hinein waren die zwei Freunde mit leeren Händen zurückgekehrt. Man ging davon aus, dass jemand sie mit Gewalt mitgenommen haben musste oder aber, dass sie sich im Wald verirrt haben musste und, wenn sie sich noch irgendwo da draussen aufhielt, von Wölfen zerfleischt worden war. Die Hoffnung schwand mit jedem Tag, der verstrich, dass man sie jemals wieder finden würde.

BelagerungWhere stories live. Discover now