44 - Brachmond

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An der Seine, Westfränkisches Reich

~

Nie in seinem Leben hätte Nouel gedacht, dass er so viele Dinge auf einmal fühlen konnte. Er war zutiefst erschrocken, erleichtert und unbeschreiblich glücklich, seine Schwester dort stehen zu sehen. Sie trug einen dunklen Kapuzenumhang, der an ihrer Vorderseite halb geöffnet war und ein merkwürdig aussehendes, grünes Kleid darunter offenlegte. Ihr Gesicht war ebenfalls vor Schock erstarrt.

„Wer ist das?", hörte er noch Hamo hinter sich fragen, da war er schon losgerannt.

Er strauchelte über die Wurzeln auf dem Waldboden und stolperte seiner Schwester entgegen.

„Nouel!", rief sie und jetzt sah er, wie sich ihr trauriges Gesicht zu einem Lächeln erwärmte.

Auch sie lief auf ihn zu, aber sie hinkte. Stark sogar. Mit einem dumpfen Schlag prallte sein Körper an ihren und er schlang seine Arme um sie. Sie war dünn geworden. Oder vielleicht bildete er sich das nur ein. In seinen Erinnerungen war seine Schwester nicht so abgemagert gewesen. Er drückte seinen Kopf fest an ihre Brust.

„Aveline", murmelte er.

Das Beben ihres Körpers wurde von seinem abgefedert. Sie schluchzte und klammerte sich eisern an ihn. Auf seinem Hinterkopf spürte er ihre heissen Tränen. Unendlich lange hielten sie einander in den Armen, als befürchteten sie, dass sie sich wieder verlieren könnten, wenn sie losliessen.

Sie nahm seinen Kopf in ihre Hände und schob ihn vorsichtig von sich, um ihm ins Gesicht zu blicken. Die zwei goldenen Edelsteine, welche das wunderschöne Antlitz seiner Schwester schmückten, strahlten hell. Nouel merkte erst jetzt, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Wie sehr er dieses sanftmütige Gesicht und huldvolle Lächeln vermisst hatte.

Allerdings fiel ihm etwas auf. Ihre Gesichtszüge hatten sich verändert oder wenigstens kam es ihm so vor. Während er dem sanften Bogen ihrer Brauen mit seinen Augen folgte, entgingen ihm die tiefen Furchen auf ihrer Stirn und die dunklen Augenringe nicht. Ihr Lächeln konnte die ganze Welt erstrahlen lassen, aber dieses helle Licht, das sie aus ihrem tiefsten Inneren - aus ihrer Seele - aussendete, war schwächer geworden. Es leuchtete zwar noch durch ihre langen Wimpern, aber trüber. Nouel gefiel das überhaupt nicht.

„Ich habe dich gefunden", sagte Aveline und strich ihm über die Wangen. „Ich habe dich endlich gefunden!"

„Was ... wie... wo warst du die ganze Zeit?"

Nouel wusste nicht, welche Frage er als erstes stellen wollte. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen, so verwirrt schien er noch über diese Überraschung zu sein. Hamo und Lapin hatten ihn eingeholt und standen neben ihnen, leicht irritiert. Nouel vermutete schon, dass sie ebenso viele Fragen haben mussten, wie er.

„Wer ift daf?", lispelte Lapin.

Nouel löste sich von Aveline und wandte sich seinen Freunden zu.

„Das ist meine Schwester", sagte er stolz.

Er legte seine Hand auf ihre Schulter, um selbst nochmal sicherzustellen, dass sie tatsächlich real war. Sie war es. Sie stand neben ihm und atmete dieselbe Luft wie er.

Die überraschten Gesichter seiner Freunde liessen ihn schmunzeln.

„Deine Schwester?!", fragte Hamo sogleich.

Nouel nickte energisch. Der Anführer musterte sie neugierig und Nouel konnte sehen, wie seine Augen zwischen seinem und dem Gesicht von Aveline hin und her huschten, auf der Suche nach der geschwisterlichen Ähnlichkeit.

BelagerungWhere stories live. Discover now