28 - Wonnemond

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Lüttich - Lotharingien

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„Der dort neben dem schwarzen Pferd?", fragte Aveline.

„Eindeutig mittelgross", antwortete die Wanderhure grinsend.

Aveline liess ihren Blick über die Menschenmenge schweifen und streckte dann ihren Finger aus, um auf einen zweiten Mann beim Dorfbrunnen zu zeigen.

„Was ist mit dem beim Brunnen?"

„Uh, der Kerl ist gross!"

„Und dieser dort mit der braunen Mütze?"

Faralda kniff die Augen zusammen, so dass sie zu dünnen Schlitzen wurden. Ihr Gesicht nahm augenblicklich bemitleidende Züge an, ihre Mundwinkel zog sie nach unten.

„Eher klein, wie es scheint."

Aveline schüttelte ungläubig den Kopf, so dass ihre kupferbraunen Locken hin und her wippten. Sie sassen auf ihrem Karren mitten in Lüttich und beobachteten die Menschen - oder wohl eher die Männer, die unschuldig an ihnen vorbeigingen. Faralda hatte behauptet, mit ihrem zweifarbigen Auge an der Gangart eines Mannes erkennen zu können, wie gut er bestückt sei. Aveline hatte ihr das selbstverständlich nicht geglaubt und nun wollte Faralda es ihr beweisen. Deshalb teilten sich die zwei Frauen gerade eine Möhre, begutachteten die männlichen Bewohner von Lüttich und rätselten über ihre Bestückung.

„Woher willst du das wissen?", fragte Aveline, denn sie verstand wirklich nicht, wie in Gottes Namen die Hure sowas erkennen konnte.

„Also, schau ihn dir ganz genau an. Seine Schultern sind eingefallen, sein Rücken krumm. Sieht seine Körperhaltung für dich selbstbewusst aus?"

Aveline zögerte und musterte den Mann mit brauner Mütze von Weitem. Jetzt, wo sie ihn so von der Ferne musterte, erkannte sie, dass der Mann sich unauffällig verhielt. Seine Bewegungen waren zögerlich und vorsichtig, sein Haltung strahlte mehr Unsicherheit als Zuversicht aus.

„Ich weiss nicht...", sagte Aveline ehrlich, denn sie wusste nicht, wie man von diesem Anblick irgendwelche Rückschlüsse auf die Dinge zwischen seinen Beinen ziehen konnte.

„Schau dir den dort zum Beispiel an", sagte Faralda und deutete mit einer Kopfbewegung zu einem Kaufmann, der in teuren Tüchern drapiert war und der an jedem seiner Finger einen silbernen oder gar goldenen Ring trug.

Aveline folgte ihrem Blick und musterte den gut betuchten Mann. Er stand arrogant da und verzog sein Gesicht zu einer strengen Miene, während er die Schmuckstücke an seinen dicken Fingern drehte. Hochmütig blickte er auf jeden Menschen, der an ihm vorbeiging und war damit Aveline automatisch unsympathisch.

„Was soll mit dem sein?"

„Der hat den Kleinsten von allen", kicherte Faralda.

„Woher willst du das denn wissen? Ein Blick reicht und du weisst, was Sache ist?", fragte Aveline skeptisch.

Die Hure nickte aufgeregt.

„Die Regel ist ganz einfach, Ave! Stolzer Gang - stolzer Mann!", zwinkerte Faralda und strich sich durch ihr feuerrotes Haar.

„Grosse Männer verhalten sich nicht aufmüpfig und müssen niemandem irgendwas beweisen. Sie müssen nicht den harten Kerl raushängen, denn die Zuversicht ruht in ihnen. All die Kerle, die sich wie Sau benehmen, sich mit Gold und Besitztümern schmücken, versuchen von der traurigen Tatsache in ihrer Körpermitte abzulenken. Gold kann blenden, aber meinem sachkundigen Blick entgeht das fehlende Selbstvertrauen nicht. Der wahre männliche Stolz, der nicht prahlen muss, weil er sich seiner Selbst und seiner Kräfte bewusst ist - das ist für mich unübersehbar und unglaublich attraktiv. Bei solchen Männern verwandelt sich mein Unterleib sofort in ein triefendes Sumpfgebiet."

BelagerungWhere stories live. Discover now