09 - Ungewohnte Sanftheit

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Montag, 20.07.2020

„Da bist du ja endlich, Rosie." Am liebsten würde ich diesem Mann den heißen Kaffee ins Gesicht schütten, den ich ihm gerade habe machen müssen. Aber er ist mein Boss. Außerdem gehört sich ein solches Verhalten nicht vor unserem neuen Praktikanten – meinem neuen Praktikanten. „Entschuldige ihr lausiges Zeitmanagement. Sonst ist sie nicht so." Ich beiße mir in die Wangen, um keine Miene zu verziehen und ihn noch mehr zu verärgern. Stattdessen ringe ich mir ein Lächeln ab und stelle das Tablett mit den zwei Tassen Kaffee und einem Glas Wasser auf den Tisch zwischen uns.

Stumm setze ich mich auf den Sessel vor dem neuen Praktikanten, Steven. Ich denke an sein Bewerbungsfoto auf dem Lebenslauf zurück, auf dem er einen ernsten und selbstbewussten Eindruck gemacht hat. Doch so wie er jetzt vor mir sitzt, mit gesenktem Blick, zusammengedrückten Schenkeln und gefalteten Händen auf dem Schoß, wirkt er wie ein kleiner verschreckter Junge. Das wird ja ein spaßiger Monat mit ihm.

„Ihr seid zwei erwachsene Menschen", seufzt Patrick und schlürft laut seinen Kaffee. „Muss ich die Vorstellungsrunde für euch eröffnen? Also gut. Ich bin Patrick Price, der Boss. Wie ihr unschwer erkennen könnt, habe ich hier das Sagen. Jetzt du." Mit einem strengen Blick bedeutet er mir, seiner Anweisung zu folgen. Nur schwer unterdrücke ich den Drang meine Augen zu verdrehen.

„Ich bin Rose Donovan, du kannst mich aber Rose nennen. Ich–"

Patrick unterbricht mich barsch. „Nein, du solltest sie Ms. Donovan nennen. Wir pflegen hier einen professionellen und respektvollen Umgang miteinander, nicht wahr, Rosie?"

Ich schenke ihm ein gespielt freundliches Lächeln. „Aber natürlich, Mr Price. Dasselbe erwarte ich dann auch von Ihnen. Es ist auch Ms. Donovan für Sie." Anhand des Zuckens an seinem Kiefer kann ich erkennen, dass ihm meine Bitte absolut nicht gefällt. Vermutlich zieht das Überstunden als Strafe nach sich.

„Ich bin Steven." Der Praktikant unterbricht unser unangenehmes Blickduell mit bebender Stimme. „Steven Smith. Ich hoffe, ich kann hier viel lernen und Ihnen zur Genüge unter die Arme greifen."

„Ich bin mir sicher, dass du das wirst", antworte ich und lächle ihn aufmunternd an.

*

Der Arbeitstag ist chaotischer und anstrengender gewesen, als ich es gewohnt bin. Das Problem liegt nicht nur an meiner mangelnden Fähigkeit zu Erklären, sondern auch an Stevens fehlenden Erfahrungen und seiner viel zu schüchternen Art. Er hat nicht einmal Anrufe entgegennehmen können, weshalb ich seinen Aufgabenkreis darauf beschränkt habe, ihn Kopien machen und mir über die Schulter schauen zu lassen. Zwangsläufig habe ich mich also gefragt, warum Patrick ihn überhaupt eingestellt hat und ob Steven wirklich ein solch hoffnungsloser Fall ist, wie ich befürchte.

Als ich nach hinausgezögertem Feierabend dann endlich habe nach Hause gehen wollen, hat Patrick mich an unser traditionelles Team Dinner erinnert. Jedes Mal, wenn jemand neu in der Kanzlei anfängt, wird für denselben Abend noch ein Tisch in einer Bar reserviert.

Da ich aus dem Mist nicht so einfach habe herauskommen können, sitze ich nun mit all meinen Kollegen an einem langen Tisch. Jeder hat einen Teller voller Essen und ein großes Glas Bier vor sich stehen und unterhält sich kreuz und quer miteinander. Zu meiner linken sitzt Steven, der still in seinem Essen herumstochert und hin und wieder ein Lächeln in die Runde schenkt. Mein rechtes Ohr wird von Christina zugequatscht, die darüber schwärmt, wie gut der Neuling aussieht, dabei ist sie elf Jahre älter als er und weiß nicht einmal, ob er nicht schon in festen Händen ist. Wundern würde es mich nicht, denn er sieht nicht gerade hässlich aus. Zwar ist er für den Beruf nicht kompetent genug, dafür aber überaus freundlich. Ich bin sicher, dass das bei vielen Frauen gut ankommt.

Blue Rose - Band 1Where stories live. Discover now