Begegnung

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Als Ronan erwachte lag schon das Morgenrot über dem See. Mit frühsommerlicher Kraft drangen die ersten Sonnenstrahlen durch den nebligen Dunst, der sich über dem Wasser gebildet hatte und tauchte die Welt in feurige Farben. Für eine kleine Weile genoss es der Bursche, im Dämmerzustand zwischen Schlaf und Erwachen dazuliegen, unter einem Umhang mit seinem Liebsten, der noch tief und fest zu schlummern schien. Die Sonne wärmte ihm seine Nasenspitze und der Geruch des Grases sowie der letzten schwelenden Glut, weckten die Erinnerung an die Erlebnisse der vorigen Nacht. Wenn er einen Wunsch frei hätte, würde er die Zeit jetzt anhalten wollen. Genau hier zu dieser Stunde, in den Armen des geliebten Mannes. Oder wünschte er sich lieber einen Zeitpunkt, zu dem sie eines ihrer Liebesspiele trieben? Oder einen, zu dem sie mit ihren Pferden wild über die Stoppelfelder jagten? Nein. Genau dieser wäre perfekt.

Seine Erkenntnis erfüllte Ronan mit Glück und Dankbarkeit, gleichzeitig bemerkte er jedoch, wie ihm ein paar Tränen leise über die Wangen liefen. Sie kamen dann und wann, wie ein entferntes Echo seines alten Daseins, welches ihn daran erinnerte, wie sehr ihn die Götter gesegnet haben mussten, als sie den blonden Ritter zu ihm führten, in dieses Hurenhaus, das sein Leben war. Irgendwann, das wusste er, würde er den Plan darin erkennen. Gewiss hatte er eine Aufgabe zu erfüllen. Anders war ein so großzügig geschenktes, neues Leben nicht zu erklären. Er wollte bereit sein, alles zu tun, wenn es so weit war, und bis dahin fleißig lernen, was es für einen Knappen zu lernen gab. Waffenkunde, wie man einen Hirsch zerlegt, Nahkampf, ... selbst Latein.

Als er sicher war, dass keine Tränen mehr kamen, wischte er sich über die Wangen und räkelte sich ein wenig. Winfrid lag dennoch in tiefem Schlummer und rührte sich nicht. So beschloss Ronan, ihm noch etwas Ruhe zu gönnen. Vorsichtig hob er den Arm des Ritters, mit dem dieser ihn umschlungen hatte, an, und wand sich behände aus dessen Umarmung. Statt seiner, gab er ihm ein Stück des weiten Umhangs zu halten, was der Blonde nur mit einem leisen Brummen quittierte, bevor er wieder völlig ruhig lag. Der Lockenkopf lächelte bei sich, denn der Anblick seines Liebsten hatte diese Wirkung auf ihn seit eh und je. Dann stand er achtsam auf und blickte sich um. Überall lagen Dinge verstreut, die er oder Winfrid in der Nacht von sich geworfen hatten. Hauptsächlich ihre Kleider, aber auch dies und das. Das Einzige, was sie noch mit Bedacht und sorgsam abgelegt hatten, waren die Pferdesättel und ihre Waffen. Alles andere erinnerte an ein Schlachtfeld.

Darüber grinsend beschloss Ronan, zuerst ein paar Züge im See zu schwimmen und sich dort zu waschen. Das würde ihn beleben. Jetzt, am Morgen, war das Wasser kalt und der Bursche unterdrückte einen Jauchzer, als er sich etwas zu schnell hineinwarf. Sogleich zog er eine Bahn hin und her, dann rieb er sich kräftig die Arme und das Gesicht, was etwas Wärme gab. Den Rest erledigte er schnell, bevor er anfangen würde zu zittern. Zurück am Ufer suchte er seine Sachen aus dem Gras und zog sich eilig Hemd und Hose über, wobei ihm einfiel, dass er als der Knappe auch die Kleider seines Ritters in einer ordentlichen Reihenfolge bereitlegen sollte. Da Winfrid gewiss noch einmal in den See gehen würde, breitete Ronan ihm diese auf einem Felsen am Rand aus und lächelte ganz versonnen, als er dabei zufällig die Phiole aus Godwins Hexenküche fand. Sie war leer, aber darin roch es nach Himbeere. Er steckte sie sich kurzerhand in die Hosentasche.

Wie es aussah, schlief Winfrid noch immer tief und fest, also entschied der Lockenkopf, dass er nach den Pferden sehen wollte, die ihm seltsam ruhig vorkamen. Normalerweise würden die beiden längst versuchen, etwas Essbares zu ergattern, egal wie. Auch würden sie sich bemerkbar machen, wenn sie Ronan hörten oder witterten, doch es war kein Schnauben oder Schaben mit den Hufen zu vernehmen, was den jungen Mann stutzig machte. Waren die beiden Destrier in der Nacht fortgelaufen? Das hätten er und Winfrid doch trotz allem bemerken müssen. Ebenso, wenn sich ein Berglöwe oder ein anderes Raubtier den Tieren genähert hätte. Gewiss wäre sein Feuerherz gestiegen und hätte laut gewiehert. Dennoch war Ronan nun beunruhigt und näherte sich vorsichtig dem Ort bei den Felsen, wo er die beiden Hengste am Abend versorgt hatte.

Ob es ratsam wäre, wenn er seinen Dolch holte?

Nein, das war unsinnig. Wenn etwas geschehen war, dann musste es Stunden her sein. Und er und sein Ritter, sie waren nicht so berauscht von roter Farbe gewesen, dass sie einen Angriff auf die Pferde nicht mitbekommen hätten. Also schritt Ronan langsam weiter und schließlich um einen übermannsgroßen Findling herum, bis er es sah: Vollkommen friedlich standen Eomer und Feuerherz da, doch sie waren nicht allein. Zwischen ihnen und den Kopf hebend, weil es die Ankunft des Knappen bemerkte, stand ein drittes Pferd, welches mehr war als das. Sein Fell glänzte silbrig weiß wie das Licht des Vollmonds in einer klaren Nacht und war so weiß wie Neuschnee. Seine tiefblauen Augen musterten Ronan voller Interesse. Es witterte und stellte die Ohren auf, doch das Atemberaubendste an ihm war das mächtige, spitze Horn, das ihm auf der Stirn emporragte. Wie bei dem Tier auf dem Wappen derer von Norderfeste, schien es aus Perlmutt zu bestehen und schimmerte in den Farben von Ronans Augen. Der junge Mann starrte wie gebannt darauf und wagte kaum, sich zu rühren.

Dann, als wolle es ihm etwas sagen, nickte das Einhorn und zwinkerte ihm zu. Ronan blinzelte ebenfalls, um sicher zu gehen, dass er nicht mehr träumte. Aber das tat er ganz gewiss nicht, denn sein Herz schlug ihm laut und aufgeregt in der Brust. Dies geschah wirklich. Und er hatte keine Ahnung, was man denn tat, wenn man eines dieser Wesen traf. Was hatte Winfrids Vorfahre getan? Den Teil der Geschichte hatte der Ritter bisher ausgelassen.

„Ich grüße dich, du", brachte er mit leiser Stimme, um es nicht zu erschrecken, hervor.

Das angesprochene Tier senkte und hob den Kopf wie zum Gruß und schaute ihn neugierig an. Eomer und Feuerherz blickten nicht weniger gespannt, so als würden sie etwas von ihm erwarten. Der schwarze Hengst prustete ein wenig durch die Nüstern. Das Einhorn tat es ihm gleich. Da begriff Ronan, dass es einem Pferd wohl in vielen Dingen ähnlich war. Ob es sich wohl berühren ließe?

Langsam und bedacht darauf, keine plötzliche Bewegung zu machen, ging er so auf das Tier zu, welches ihn nicht aus den Augen ließ. Er jedoch senkte den Blick und erst als er dicht genug war, streckte er vorsichtig eine Hand aus, damit das Einhorn an ihm riechen konnte. Schüchtern war es nicht, denn es begann gleich damit, an seinen Fingern zu lecken, was kitzelte. So ermutigt, tat Ronan noch einen Schritt heran und wagte es, seine andere Hand an den Hals des Tieres zu legen, um es dort zu kraulen. Dies schien ihm zu gefallen, denn es gab sich der Berührung des jungen Mannes hin und entspannte. Nun wagte Ronan, das Einhorn wirklich anzusehen. Es war wunderschön. Die Mähne fiel ihm in langen, sanft gewellten Strähnen herab und auch das Horn war etwas in sich gedreht, was die Farben wie von Perlmutt umso mehr schimmern ließ. Es war verlockend, doch instinktiv kam es dem Burschen nicht recht vor, das Horn zu berühren. Stattdessen legte er seinen Kopf sanft an den Hals des Tieres und streichelte es.

Gewiss hatten die beiden, umringt von Eomer und Feuerherz, eine kleine Weile gestanden, dann schüttelte das Tier erst sachte, dann bestimmter den Kopf. Dies war das Zeichen, dass es gehen wollte und so lösten sie sich voneinander. Ronan strich dem Einhorn ein letztes Mal liebevoll über den Hals und die weichen Nüstern, dann machte er einen Schritt zurück und schaute es zum Abschied an. Noch einmal nickte das Tier mit dem Haupt, dann wandte es sich zum Gehen, schritt an den Hengsten vorbei und machte einen Satz zwischen den Felsen hindurch in Richtung des Waldes, aus dem es gekommen sein musste. Ronan schaute ihm hinterher und winkte mit einem Seufzer aus tiefstem Herzen. Er wusste, dies war das erste Mal seit langer Zeit gewesen, dass sich das Einhorn gezeigt hatte. Und schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass er es wohl nur einmal im Leben sehen durfte. Und doch: wie wunderbar! Von allen Menschen, die in diesen Landen lebten, hatte es ihn erwählt. 

Die erste Nacht des SommersWhere stories live. Discover now