Kapitel 1 - flüssiger Honig

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Wer hätte glauben können, dass sich mein Leben so gewaltig ändern würde, wie in den letzten Monaten? Ich auf jeden Fall nicht. Doch was hält das Schicksal schon offen? Über den Tod meiner Freunde musste ich mir nie Gedanken machen und über meinen schon gar nicht.

Vermutlich sollte ich damit mal anfangen...


Schweißgebadet lag ich in meinem Bett und rührte mich nicht. Wie so oft in den letzten Tagen hatte mich mein Bewusstsein wieder einmal vor dem Alarm geweckt. Nach ein paar schnellen Atemzügen öffnete ich die Augen und starrte an die Decke meines Schlafzimmers. Es dauerte keine Zehn Sekunden, bis nur noch Bruchteile des Alptraumes vorhanden waren. Schon wieder. Für einen weiteren Moment schloss ich die Augen und lauschte dem Klopfen meines Herzens, wie es sich nach und nach beruhigte. Mit einem stillen Seufzer schaute ich zu dem Fenster am Ende des Raumes. Die ersten Sonnenstrahlen brachen durch die zugezogenen Gardinen und erhellten meinen Raum in einem lieblichen orange. Meine Nase begann zu kribbeln, als ich direkt in das Licht schaute, und so kniff ich meine Augen als Schutz vor dem noch viel zu grellen Licht zusammen. Ich drehte meinen Kopf und folgte den Schatten, wie sie an der Wand tanzten, ihre Größe veränderten und meinen Raum in ein Spektakel verwandelten. Sie tanzten über meinen Schreibtisch und das darüber hängende Regal, über meine Bettdecke, die mich unter sich begrub, bis hin zu der geschlossenen Türe und meinem Kleiderschrank, dessen helles Holz die Farbe aufsog, wie ein Schwamm. Ich rollte mich auf die Seite und beobachtete den Uhrzeiger, wie er langsam im Kreis kroch, hin zu der Uhrzeit, die mich eigentlich hätte wecken sollen. 05.28 Uhr, noch zwei Minuten, dann würde er klingeln. Jedoch ließ ich ihm diese Chance nicht. Mit wenigen trägen Bewegungen schaltete ich den Alarm aus. Als ich die Uhr an ihren rechtmäßigen Platz zurückstellte, fiel mein Blick auf das gerahmte Bild der wunderschönen Brünette, die mich breit angrinste. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Ich setze mich auf und nahm es behutsam vom Nachttisch.

„Guten Morgen, Mama.", flüsterte ich sanft. „Ein weiterer Tag bricht an."

Ich spürte wie mir die Tränen in die Augen schossen. Augenblicklich schloss ich sie und atmete tief aus, um mich zu beruhigen. Auch wenn ihr Tod schon fünf Jahre her war, wühlte es noch immer diese grausigen Gefühle in mir hoch. Ihren Tod hatten die Ärzte schon lange vorausgesehen. Durch ihr schwaches Herz hätte meine Mutter keine Geburt überstehen sollen, weder meine noch die meiner Schwester. Und doch, wie durch ein Wunder überstand sie meine. Nachdem sie mit meiner Schwester schwanger wurde, rieten ihr die Ärzte zu einer Abtreibung.

Niemals würde ich auch nur in Erwägung ziehen, mein Leben dem eines Kindes vorzuziehen!" Das waren ihre Worte gewesen. Der Gedanke daran brachte mich zum Lächeln. Wäre sie damals dem Rat der Ärzte gefolgt, wäre so einiges anders gekommen. Ich hätte niemals eine so großartige und wundervolle kleine Schwester bekommen, jedoch hätte ich dann weiterhin eine Mutter gehabt. Sie als meine Mutter gehabt. Doch ihr Herz versagte noch während der Geburt und hinterließ mir eine genauso Herzkranke Schwester und einen Alkoholiker als Vater. Es verging keinen Tag, an dem ich ihr Lächeln und ihre zarten Umarmungen nicht vermisste.

Ich stellte das Bild zurück und warf mit einem Ruck die Bettdecke ans Fußende.

Dann mal los. Neuer Tag, neues Glück.

Nachdem ich das Bett gemacht hatte, ging ich zu dem in Orange getauchten Fenster und öffnete es. Die kühle Morgenluft wehte mir entgegen, sodass sich meine Haare am ganzen Körper aufstellten. Das tat gut, wirklich gut. Ich atmete die frische Luft ein und tankte ein wenig Energie für den Tag, bevor ich mich umwandte und meine Unterlagen auf dem Tisch zusammen kramte. Ich hatte, wie so oft, noch spät abends an meinen Hausaufgaben gesessen, doch mit meinem Geschichtsreferat war ich trotzdem nicht fertig geworden. Nationalsozialismus im zweiten Weltkrieg. Ein sehr umfangreiches und spannendes Thema, doch zum Recherchieren kam ich noch nicht. Dabei war die Abgabe heute. Sonst hatte ich nie mit einer Abgabe hinterher gehangen, das war einfach nicht meine Art und richtig fand ich es auch nicht. Jedoch hatte es mir die Erkältung meiner Schwester nicht leichter gemacht. Ich griff nach meiner Tasche, die an meinem Bettende stand und begann Schulbücher, Stifte und Hefte in die Tasche zu drücken. Ich schloss den Reißverschluss meiner Tasche und legte sie auf mein Bett, um kurz danach meinen Kleiderschrank nach etwas passendem zu durchstöbern. Mit dem perfekten Outfit in der Hand öffnete ich die knarrende Zimmertüre und schaute in den noch dunklen Flur. Am Ende des Flures schien durch die offene Küchentüre das Licht der aufgehenden Sonne und erhellte wenigstens einen kleinen Teil des tristen Flurs. Das Badezimmer lag gegenüber der Küche, wodurch ich den langgezogenen Gang erst einmal durchqueren musste. Die Schlafzimmertüre meiner Schwester Lilly war nur angelehnt, weshalb ich mit leichten Schritten über den knarzenden Boden glitt. Aus dem Schlafzimmer meines Vaters kam das vertraute Schnarchen, was mir reichte, um zu wissen, dass er die Nacht zu Hause verbracht hatte. Es kam nicht selten vor, dass er auf Geschäftsreise war oder durch die späte Arbeit in der Firma blieb. Ob er mir die Wahrheit sagte oder nicht, war mir mittlerweile egal.

Gedankenvertieft schaute ich aus dem Fenster und beobachtete die Wolken, wie sie langsam über mich hinweg zogen.

„-les... Charly!", zischte Nora, eine rothaarige schüchterne junge Frau und eine meiner besten Freundinnen. Ihre zurückgezogene und introvertierte Art machte es ihr nicht gerade einfach Mitglied des Schülerrates zu sein. Dass ihre Mutter Sie dazu gedrängt hatte, verschwieg Sie jedoch den anderen.

„Damit du über dich und deine eingeschränkte Art hinauswächst!", hatte Sie gesagt. Immer wenn ich daran zurückdachte, packte mich entsetzen, dass eine Mutter so mit ihrer Tochter sprechen konnte. Doch Noras Eltern hatten ihr immer viel zugemutet, als einziges Kind der Familie unterlag sie ihren autoritären Eltern.

Sie warf mich mit Radiergummistückchen ab, bis ich mich endlich regte. Mein Erdkundebuch war vor mir aufgestellt, sodass man mich nur spärlich sah, weshalb ich mich zu ihr umdrehte.

„Was ist denn?", flüsterte ich. Nora deren kurze Haare durch ihre vorgebeugte Haltung den Tisch leicht berührten, lächelte mich an.

„Wie geht es deiner Schwester?", fragte sie leise. „Ist sie noch so stark erkältet?"

Ich schüttelte den Kopf. „Sie hustet noch immer, doch es geht ihr endlich besser.", begann ich leise. „Dr. Heußen meinte, dass sie nur noch eine leichte Erkältung hat und ihr Herz all das gut überstanden hat."

„Das freut mich.", flüsterte sie mit einem Lächeln, doch dann blickte sie an mir vorbei und lehnte sich zurück, so als hätte sie die ganze Zeit aufrichtig dem Lehrer gelauscht. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass es in der Klasse totenstill war.

„Charlotte, wenn sie dann fertig sind die Wolken zu beobachten und sich wieder meinem Unterricht widmen würden, wäre ich ihnen sehr dankbar." Ertappt drehte ich mich mit zusammen gepressten Lippen langsam um. Die Blicke der einzelnen Schüler waren auf mich gerichtet. Einige grinsten bis über beide Ohren und kicherten, als hätte man ihnen gerade einen Sack voll Gold vor die Füße gelegt. Doch eigentlich freute es sie nur, dass auch ich mal eine Abreibung bekam. Klassenbeste zu sein bedeutet zwar, dass ich bei den Lehrern gut dastand und es später mal auf eine gute Uni schaffe, aber es lockt auch die Wölfe und Schafe hervor, die nichts Besseres zu tun hatten, als einen blindlings anzugreifen. Aber das interessierte mich nicht. Ich brauchte keine falschen Freunde, die mir bei der besten Gelegenheit in den Rücken fallen würden, weil sie dem Gruppenzwang unterlagen. Ich hatte Freunde, beste Freunde, genau genommen zwei, doch sie reichten mir. Sie waren das Einzige, was ich neben meiner Schwester zum Leben brauchte.

Mein beschämter Blick streifte den meiner Mitschüler und traf dann auf die schönsten Augen, die es jemals gab. Oh man. Flüssiger Honig, der die Pupille einschloss und wild um sie herumtanzte, sodass sie einen in ihren Bann zogen. Adleraugen, die mich fesselten und nicht wieder frei gaben. Rabenschwarze Wimpern die all das einschlossen und dunkelbraune dichte Augenbrauen. Die kleine Narbe, die eine spaltet, machte sein sonst so ruhiges Aussehen, wild und geheimnisvoll. Meine Augen zogen Linien über seine gebräunte Haut hin zu seinen Lippen, die so weich aussahen, dass man sie einfach berühren wollte. Seine durch und durch gut gestylten braunen Haare wurden von einem gepflegten kurzen Bart begleitet. Sein weißes Hemd und die graue Anzughose schmiegten sich an seinen Körper wie eine zweite Haut. Seine trainierten Arme ließen einen nur vermuten, was sich sonst noch unter dem Hemd befand.

Darf ich also vorstellen: David Parker, Lehrer und Adonis dieser Schule.

Hitze strömte durch meinen Körper und löste ein Kribbeln aus. Wäre meine Kontrolle nur halb so gut, wie sie nun mal war, hätte mein Gesicht jetzt die Farbe einer sehr reifen Kirsche angenommen. Doch nichts an meinem Körper ließ auch nur ein Fünkchen der Gefühle, die ich in mir trug ans Tageslicht. Niemals. Neben mir fühlten viele Mädchen so. Warum auch nicht? Er war attraktiv, höflich und hatte ein einmaliges Lächeln. Und daneben war er noch unbeschreiblich anziehend. Pubertierende Teenager verknallten sich also ständig in ihn und naja, ich war keine Ausnahme.

„Natürlich.", sagte ich höflich, drehte mich nach vorne und legte mein Buch nieder.

Einen Augenblick lang erwiderte er meinen Blick und lächelte dann, „Gut." Während er den Gang zurück zum Lehrerpult nahm, griff ich nach einem Zettel und kritzelte ein einziges Wort hinauf. Eis? Ich hielt es hinter mich und wagte einen Moment lang zurückzusehen. Das Lächeln auf Noras Lippen war Antwort genug gewesen.

„Achja Charlotte," Ich erstarrte und schaute schnell nach vorne. Herr Parker stand hinter seinem Pult und lächelte auf eine schnippische Art und Weise, die das Kribbeln nur verstärkte. „-komm doch bitte nach der Stunde einmal zu mir." Aus einigen Ecken ertönte lachen, doch mehr als ein zusammengepresstes Lächeln, brachte ich nicht hervor. Schon wieder erwischt.

Charlotte - tödliches VerlangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt