Kapitel 29 - Frei

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Er fühlte sich leer am nächsten Tag, und er hätte nicht sagen können, ob es ein gutes Leer war oder ein schlechtes. Da war schlicht nichts in seinem Kopf, keine Gedanken, keine Pläne. Er brauchte auch nicht gross zu denken. Als es Zeit war machte er sich auf den Weg ins Liliths, grüsste Muyma in der Küche mit einem Nicken, zog sich um, bereitete den Empfangsraum vor, trat seine Schicht an.

Ein Stück weit fühlte es sich an, als wäre das letzte Dreiviertel Jahr niemals vergangen. Als wäre er niemals zu Jaz und Emila zurückgekehrt, hätte niemals von Poss gelernt, ein Dieb zu sein, als hätte es Djora niemals gegeben. Es wäre beinahe einfach gewesen zu glauben, all das wäre nur ein seltsamer, bittersüsser Traum gewesen. Falrey wusste, dass das nicht stimmte, die Lücke zwischen seinen Zähnen erinnerte ihn daran. Trotzdem versuchte er es sich vorzustellen, fragte sich, was anders gewesen wäre.

Ihm wäre eine Menge erspart geblieben, nicht nur Wirjad, sondern auch Nemi. Damals hatte er ihr nachgetrauert, sich für einen Idioten gehalten, weil er sich nicht mehr auf sie eingelassen hatte, sondern einfach ohne Abschied abgehauen war, aus Angst vor Jaz. Rückblickend war er tatsächlich ein Idiot gewesen, aber genau in die andere Richtung. Er mochte eine Weile lang ziemlich glücklich gewesen sein, weil er an eine Zukunft mit Nemi geglaubt hatte. Aber das Wissen, darum, dass es immer nur eine falsche Hoffnung gewesen war, machte das alles zunichte, und er wünschte sich, er hätte es nie versucht.

Trotzdem war die Vorstellung, all die Monate, alles darin wäre nur ein Traum gewesen, beängstigend. Denn dann wäre immer noch hier gewesen, immer noch allein, hätte Jaz immer noch gleichzeitig vermisst und gehasst, weil sie sich nie ausgesöhnt hätten. Der Gedanke tat weh, jetzt noch mehr als damals. Mit allem, was er heute wusste, hätte er keinen Tag gezögert, zurückzugehen und ihm zu verzeihen, ohne dass Jaz ihn darum hätte bitten müssen. Aber vielleicht hatte es auch das gebraucht. Damit Jaz die Freundschaft akzeptierte.

Als er gegen Vitar kurz nach hinten ging, um einen Becher Wasser zu trinken und sein mitgebrachtes Brötchen zu essen, traf er dort auf Samalja. Wie sie dastand, an die Arbeitsfläche gelehnt und ohne etwas Bestimmtes zu tun, wirkte es, als hätte sie auf ihn gewartet. Als er die Hälfte des Brötchens gegessen hatte, fragte sie schliesslich: „Wie war die Beerdigung?"

Er schluckte den Bissen herunter und zuckte mit den Schultern, wusste nicht, was er dazu hätte sagen sollen. Es gab keine Worte, die so etwas angemessen beschrieben hätten, ohne offensichtlich zu sein.

„Aber du warst da?"

Er nickte. Dass er nach höchstens der Hälfte gegangen war, behielt er für sich, weil er nicht erklären wollte, wieso.

Samalja blickte einige Atemzüge lang ziellos durch den Raum, dann meinte sie: „Ich hätte auch gehen sollen."

Er verzog leicht das Gesicht, sagte vorsichtig: „Ich denke nicht, dass du mit den Leuten da viel hättest anfangen können." Oder sie mit dir.

„Darum geht es nicht", erwiderte sie. „Ich dachte nur... ich..." Sie rang mit sich selbst, holte mehrmals Luft und brach wieder ab. Schliesslich sagte sie: „Ich fragte mich: hätte er das auch getan, hätte ich ja gesagt?"

Ihre Worte klangen so hilflos, dass Falrey im ersten Moment nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Er kapierte, dass er zumindest nicht der einzige war, der begriffen hatte, dass Djora sich nicht aus Versehen umgebracht hatte.

„Ich dachte, er ist einfach nur ein dummer Junge, der denkt, er kann alles haben", fuhr sie fort. „Ich wusste doch nicht... ich wollte doch nicht, dass er... Er kam einfach nicht runter, als wir aufmachen wollten. Ich dachte, er hätte mal wieder verpennt, also bin ich hoch, um ihn zu wecken. Er lag einfach da und ich hab mir gewünscht, er würde schlafen, aber ich wusste, dass es nicht so ist. Und in dem Moment dachte ich mir nur: warum hast du nicht ja gesagt? Ich meine, was hätte es denn für eine Rolle gespielt?" Ihre Stimme klang erstickt. „Ich schlafe mit jedem Idioten für Geld. Was hätte es für eine Rolle gespielt, wenn ich ihn auch gelassen hätte?"

Niramun III - Mit Faust und KlingeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt