Kapitel 9

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* POW Daichi*

Mittlerweile ist schon die Sonne aufgegangen. Ich gehe heute nicht zur Schule, ich kann noch immer nicht aufhören zu weinen. Mein armer Suga. Ich kann es einfach nicht fassen, das kann nicht wahr sein. Das muss ein Traum sein, ja, ein böser Traum. Aber leider weiß ich genau, dass ich nicht einfach aufwachen kann und alles wieder gut sein wird. Die Realität ist grausam.

Ich sage meiner Mutter bescheid, dass ich heute zu Hause bleibe. Sie stimmt zu und ich gehe sofort wieder ins Bett. Den ganzen Tag denke ich nur an Suga, nicht eine Sekunde verschwende ich den Gedanken an etwas anderes. Wie viel Zeit bleibt ihm noch? Wie lange hat er das geheim gehalten? Ich muss ihm doch irgendwie helfen können, aber wie?

Ich zerbrechen an dem Gedanken von seinem Tod, aber das hier geht nicht um mich. Ich darf nicht aufgeben, ich muss für ihn da sein. Ich muss für sie alle da sein. Ich muss meine eigenen Gefühle vergessen und mich nur um die anderen kümmern. Ich darf jetzt nicht hier verrecken, während Suga im Sterben liegt. Er ist wichtig, nicht ich.

Ich denke also die ganze Zeit nach, was ich tun kann. Der Tag verfliegt schneller, als je zuvor. Es ist schon abends und ich gehe langsam ins Bett. Ich schlafe schnell ein, aber ich schlafe nicht gut. Ich wache immer wieder auf und habe die ganze Zeit Alpträume. Am nächsten Morgen muss ich wieder zur schule. Ich muss es ihm heute sagen, ihm alles gestehen. Ich muss endlich klar stellen, dass auch ich ihn liebe. Sobald ich ihn sehe.

Ich mache mich auf den Weg, aber von Suga ist keine Spur. Ist er ohne mich gegangen? Auch als ich in der Schule ankomme, fällt mir seine Abwesenheit auf. Vielleicht hat er das morgentraining einfach verschlafen? Aber auch als es zum Unterricht klingelt, kann ich ihn nicht entdecken. Ich frage die Lehrer, aber auch dir wissen von nichts. Im Laufe des Schultag es taucht er nicht auf, wie ich gehofft habe.

Dann gehe ich wieder zur Sporthalle. Ich frage nach, ob jemand was weiß, aber niemand hat von ihm gehört. Die anderen erzählen mir, dass er auch gestern ohne Spur gefehlt hat. So langsam fange ich an, mir Sorgen zu machen. Im Training kann ich mich natürlich auch nicht konzentrieren, muss die ganze Zeit an ihn denken. Was, wenn ihm was passiert ist. Ich habe mehrmals versucht ihn anzurufen, genau wie auch die anderen, aber wir erhalten kein Lebenszeichen von ihm.

Nach dem Training beschließe ich, sofort zu seinem Haus zu gehen. Ich stehe vor seiner Haustür und betätige die Klingel. Nach ein paar Minuten kommt in mir ein ungutes Gefühl auf. Wo ist er?!! Ich schnappe mir schnell den Ersatzschlüssel unter seiner Fußmatte. Kein kreatives Versteck, aber Suga liebt die einfachen Dinge im Leben. Er ist nie sonderlich kompliziert. Ich drücke den Schlüssel in meiner Hand fest zu, während ich ihn im Türschloss umdrehe. Dann öffnet sich endlich die Tür, doch darin erwartet mich bloß stille. Ich sehe mich im Haus nach ihm um, rufe mehrmals seinen Namen, doch weder höre, noch sehe ich ihn irgendwo. Er ist wie von Erdboden verschluckt. Jetzt stehe ich vor seiner Zimmertür. Ich habe ein wenig Angst sie zu öffnen, dass muss ich zugeben. Nach allem, was mit Shimizu passiert ist, ist das auch kein Wunder. Was ist, wenn er jetzt da liegt? Wenn er da liegt, aber nicht atmet?? Ich würde das nicht aushalten. Ich muss die Tür aber öffnen, denn sonst weiß ich nie, ob er darin liegt. Ich drücke also langsam die Klinke herunter und drücke leicht gegen die Tür. Sie öffnet sich.

Ich blicke mich gut im Raum um, hauptsächlich um sicherzugehen, dass er nicht doch irgendwo hier liegt, aber ich kann ihn nicht entdecken. Der Raum ist leer und umhüllt von Stille. Er ist nicht hier. Aber wo ist er dann? Denk nach Daichi, denk nach! Wo würde er hingehen? Seine Schwester ist im Ausland, seinen Vater kennt er gar nicht und seine Mutter ist tot. Also zu wem könnte er gegangen sein? Und wenn er alleine ist?! Wo würde er hingehen... Das einzige was mir gerade einfällt, ist die Hütte im Wald. Wir haben sie gemeinsam gebaut. Aber da würde er doch nicht hingehen oder? Ich meine, es ist nicht so, dass man da wirklich überleben könnte, sie ist schon vollkommen kaputt. Und es ist Winter, zwar ist noch kein Schnee gefallen, aber es ist jetzt gerade so kalt, dass es mich nicht wundern würde. Also kann er doch nicht da sein....Aber was ist, wenn doch?

Noch bevor ich weiter darüber nachdenken kann, renne ich schon aus dem Haus raus und in Richtung des Waldes.

*POW Sugawara*

Ich liege hier auf dem Boden im Wald. Unter meinem Rücken ist ein Holzbrett. Ich liege hier in einer Hütte, Daichi und ich haben sie gebaut. Im Dach befindet sich ein riesiges Loch, durch das ich jetzt hinauf in den Himmel sehe. Der Himmel ist klar blau, mit ein paar weißen Wolken darin. Diese Schattierungen von grau und Weiß sind wunderschön anzusehen. Ich denke darüber nach, wie es wäre, jetzt dort oben zu sein, die Wolken zu berühren. In mir ist gerade eine Ruhe, die ich nicht beschreiben kann. Ich bin zufrieden. Der Augenblick ist einer dieser kleinen Dinge, die einem unglaublich Magisch erscheinen. Ich liege einfach nur hier und beobachte dieses wunderschöne Gemälde der Natur.

Ich bin vor 2 Tagen hier her gekommen. Eigentlich hatte ich vor, meinem Leben den letzten Rest zu geben, es zu beenden. Aber stattdessen liege ich einfach nur hier und sehe mir den Himmel an. In der Nacht beobachte ich die Sterne. Ich verbinde sie, male daraus kleine Bilder. Diese Harmonie, die der Himmel ausstrahlt, habe ich schon lange nicht mehr spüren können. Die ganze Zeit habe ich mich gefühlt, als ob mein Geist nur noch in einem leblosen Körper umher irrt, bis er endlich die Erlösung findet. Aber jetzt zum ersten Mal seit langen fühle ich mich wieder richtig lebendig. Dieses warme Gefühl, das durch meinen Körper strömt, diese Zufriedenheit, ich habe es so vermisst. Ich dachte, ich hätte abgeschlossen, mich damit abgefunden zu sterben, aber gerade jetzt spüre ich deutlich, wie schön das Leben sein kann. Ich will noch nicht jetzt sterben. Irgendwann, aber nicht jetzt. Ich will diesen Augenblick genießen. Ich will das Leben genießen. Noch ein bisschen, nur noch ein bisschen länger. Nur noch ein wenig mehr Zeit. Ich will diese Zeit genießen, sie mit denen verbringen, die ich liebe. Mit dem team, mit Daichi.

Genau jetzt fällt mir natürlich wieder ein, was ich ihm gesagt habe und wie er reagiert hat. Er wirkte geschockt, nicht so, als erwidert er meine Gefühle. Aber um fair zu sein, ich habe ihm im gleichen Satz von der Krankheit erzählt, sie mich langsam aber sicher von innen umbringt. Vielleicht war er nur deswegen so geschockt? Ich habe mich schon so sehr daran gewöhnt, dass ich gar nicht mehr weiß, wie es auf andere wirkt. Ich habe so lange dieses tote Leben geführt, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, solche Augenblicke wie diesen jetzt gerade, genießen zu können. Ändert sich doch noch alles? Liebt er mich doch? Kann ich die letzten Monate doch noch genießen? Das wäre schön... aber ich darf nicht zu viel träumen. Hoffnung verletzt nun mal. Ohne Hoffnung auch keine Enttäuschung. Aber auch kein richtiges Leben. Hoffnung macht das Leben schön und erweckt den Eindruck, das Leben hat doch einen Sinn. Ohne diese Hoffnung werde ich zwar nicht enttäuscht, aber das Leben ist kalt und bitter. Ich schätze mal das war der Grund, warum ich mich so tot fühle.

Ich denke so darüber nach und merke, wie meine Augen immer schwerer werden. Mittlerweile kann ich die Kälte auch kaum noch spüren. Ich bin jetzt seit 2 Tagen hier, hab nichts gegessen oder geschlafen. Ich lag einfach nur hier und habe den Himmel beobachtet, während die Kälte immer näher kam. Einzelne Bäume und Blätter haben bereits begonnen, zu gefrieren. Aber ich liege unverändert hier und habe auch nicht die Lust, etwas zu ändern, mich zu erwärmen. Ich weiß zwar, wie gefährlich diese Kälte ist, aber das macht mir nichts aus. Wenn ich jetzt sterbe, habe ich die letzten Minuten meines Lebens mit fröhlichen Gedanken verbracht. Dieser Tod wäre anders, als mir selber das Leben zu nehmen. Das wollte ich aus Schmerz tun, aber jetzt gerade empfinde ich keinen Schmerz. Je kälter es um mich herum wird, desto wärmer wird mein Herz. Ich kann Daichi darin spüren, ganz deutlich. Er ist bei mir. Er wacht über mich.

Vom Himmel kann ich ein paar Schneeflocken erkennen, die sich auf meine Gesicht niederlassen. Irgendwann habe ich sogar das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Mein Herz brennt, wie es nur bei Daichi tut. Ist er hier? Ich merke gar nicht, dass ich noch immer meine Augen geöffnet habe, denn ich bin irgendwie nicht in dieser Realität, versunken in tiefen Träumen. Ich bemerke das erst, als meine Augenlider sich zu schließen beginnen. Dann kann ich auch einen ganz leisen und dumpfen Ton erkennen. Er erinnert mich an Daichis Stimme, ganz weit weg. Ich kann nicht ausmachen, was er sagt, oder eher ruft, bis schließlich auch dieser Ton verstummt.

Hoffnung / DaisugaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt