Neun

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[Im selben Moment, in dem ich meine Kapuze mit einem einzigen Ruck nach hinten werfe, macht der Schrank einen Satz nach hinten und hält sich somit aus der Schusslinie heraus. Zeitgleich mit der Erkenntnis in ihren Augen, als sie meine schneeweißen, langen Haare und meine glühenden Augen sehen, gefrieren ihre Körper zu Eis und zerspringen laut klirrend...]

Kühl starre ich auf den Scherbenregen am Boden. Ich suche in mir nach Reue, nach Schuldgefühlen, nach etwas, das mir sagt, dass ich das Falsche getan habe, aber... da ist nichts. Nur Stille.

Der Schrank pfeift leise. "Zumindest in einem Punkt stimmen die Gerüchte über dich: Du kannst skrupellos sein, wenn du es willst", murmelt er vor sich hin.

Ich zucke nur mit den Schultern und werfe einen Blick über die Schulter. Durch den leeren Gang kann man das Boden erschütternde Hallen von Füßen hören, die sich nähern. Ich werfe einen Blick auf den Schrank, der sich vollkommen an den Plan gehalten hat - und mich nicht, wie befürchtet, verraten hat -, dann in Richtung vor uns liegender Raum. "Ich schlage vor, wir lassen uns selbst hinein, bevor man uns wieder rauswirft."

Er grunzt zustimmend und tritt einen Schritt zurück. "Nach dir, kleine Prinzessin", grinst er mich an.

Wäre ich nicht in der Lage, Männer wie ihn mit einem Wimpernschlag in Eis zu verwandeln, seitdem ich meine volle Macht besitze, hätte ich hier wohl Verrat gewittert und darauf bestanden, dass er vorgeht. Aber ich bin nun einmal mächtig und nicht so leicht unterzukriegen, also denke ich mir nichts dabei, während ich gleichgültig den weitläufigen Raum betrete. Zumal meine vorherigen Bedenken sich als lediglich paranoide Gedankengänge entpuppt haben. 

"Ich habe mich schon gefragt, wer für den Krach verantwortlich ist", begrüßt mich eine kehlige Stimme amüsiert in der Sekunde, in der ich den Raum hinter der Tür betrete.

Ich weiß nicht, was ich erwartet habe - wen ich erwartet habe - aber ganz sicher hätte nicht damit gerechnet, einen kleinen, wunderschönen, halbwüchsigen Jungen mit schwarzen Haaren als Anführer einer Truppe von Wilden anzutreffen. Wenn ich sein Alter schätzen müsste, würde ich auf zehn tippen.

Seine seidigen, verwuschelten Haare lassen ihn unaufmerksam und verträumt wirken, seine blasse Haut steht in starkem Kontrast dazu, aber seine Augen... In ihnen lodert eine silberne, gnadenlose Flamme. Nicht so, wie bei Freedom oder mir, aber dennoch... ehrfurchteinflößend. Dieser kleine Junge wirkt allein durch seinen starren Blick und seine bemerkenswerten Augen bedrohlich und gefährlich.

Der Anführer mustert mich genauso schamlos wie ich ihn, und auch er bleibt an meinen Augen hängen. Mein Begleiter sieht nur von einem zum anderen und verharrt in Kampfposition.

Innerhalb eines Wimpernschlags rast ein silbernes, verschwommenes, flüssiges Etwas auf mich zu, das mich ganz sicher verbrennen und töten könnte - doch es verpufft zischend an meinem unsichtbaren Schild aus purer Kälte.

Amüsiert ziehe ich einen Mundwinkel hoch und lege den Kopf schief. "Ein ziemlich plumper Frontalangriff. Ich habe einige Arten an Begrüßungen erlebt, aber diese war noch nicht dabei."

Der Junge schnaubt nur belustigt. "Ebenfalls", antwortet er kurz angebunden.

"Ich will nicht anmaßend erscheinen, aber...", beginnt der Schrank leise und zuckt ängstlich zusammen, als der Junge seinen Blick auf ihn richtet. Sofort verstummt er.

Verblüfft ziehe ich die Augenbrauen hoch. "Dieser kleine Hosenscheißer wirft dir einen Blick zu, und du machst dir beinahe in die Hosen?", rutscht es mir heraus. Also war die Heiterkeit des Schrankes von Mann tatsächlich eine Farce und er von Anfang an verängstigt. Ist dieses Kind etwa auch der Grund für die Furcht in den Augen der nun toten Wächter vor der Tür?

Fassungslos reißt der Schrank die Augen auf und starrt mich entgeistert an, als hätte ich soeben verkündet, dass ich nackt durch den Schnee stapfen wollen würde. "Du weißt nicht, wen du vor dir hast, Prinzessin?", fragt er leise, noch immer schockiert.

"Sollte ich denn?", stelle ich irritiert mit zusammengezogenen Augenbrauen eine rhetorische Frage. Ich wende mich wieder dem Jungen zu. "Egal, wer oder was du bist, letztendlich bist und bleibst du ein kleines Kind", aus dem Augenwinkel werfe ich einen Blick auf den Schrank, "Und ich werde ganz sicher nicht vor einem kleinen Kind zittern."

"Vorsicht", schnurrt der Junge, "Ich kann gefährlich werden, wenn ich es darauf anlege." In seinen Augen funkelt eine grausame Mordlust - von der ich mich allerdings nicht einschüchtern lasse. Ganz im Gegenteil zu meinem Begleiter, wie es scheint, denn der weicht langsam zurück.

Gleichgültig zucke ich mit den Achseln. "Ich habe weit gefährlichere Gegner als dich gehabt, also nur zu. Greif mich ruhig an. Aber sei gewarnt: Wenn du es tust, werde ich mich nicht zurückhalten, dir den Hintern zu versohlen." Ein geisterhaftes Lächeln umspielt meine Lippen.

Von hinten höre ich, dass die durch den Krach aufgeschreckten Wilden endlich angekommen sind. Und sie alle haben meinen letzten Satz - und die darin verborgene Drohung - gehört. Ein lautes Schaben von Metall auf Metall verrät mir, ohne, dass ich mich umdrehen müsste, dass sie soeben ihre Waffen gezückt haben und einen Plan entwerfen, wie sie mich am Schnellsten unter die Erde bringen können. Oder eher unter das Eis und den Schnee?

Storming LightWhere stories live. Discover now