Kapitel 47

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Der Graf reiste tatsächlich noch am selben Tag ab, allerdings nicht bevor er mit mir unter vier Augen ein Gespräch geführt hatte, in dem ich mir vorkam wie ein kleiner Junge vor seinem strengen Vater.

„Ich verstehe manchmal nicht, warum Ihr so handelt, wie Ihr es tut und es ist erstaunlich, dass im Nachhinein alles absoluten Sinn ergibt. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass die Entführung der Tochter des Stadtvorstehers ein großer Fehler war, allerdings wäre ich nicht überrascht, wenn es sich plötzlich als ein Geniestreich erweist. Ihr habt versprochen, dass Ihr Merin vor dem Untergang retten werdet und ich nehme Euch beim Wort. Wagt es nicht mich zu enttäuschen."

Ich nickte nur.

Hannah und Ander fiel der Abschied besonders schwer. Für sie war der Graf eine Art Ersatzvater in der schwersten Zeit ihres Lebens gewesen, deshalb war es nur verständlich, dass sie sich kaum voneinander lösen konnten.

Alyn und ich standen etwas im Hintergrund beieinander und beobachteten die rührende Szene.

„Ich vermisse meinen Vater", meinte sie auf einmal traurig.

„Wir werden ihn retten", verkündete ich entschlossen. Für Alyn würde ich selbst in die Gryphe hinüberwandern, wenn sie es so wollte.

„Er war mein Fels in der Brandung. Auch wenn ich ihn oft tagelang nicht zu Gesicht bekommen habe, hat er mich immer unterstützt. Ich bin häufig auf der Flucht vor irgendwelchen Gouvernanten gewesen, die mich dafür bestrafen wollten, weil ich mal wieder in Hosen herumgerannt bin. Immer wenn ich deswegen in sein Arbeitszimmer gerannt bin, hat er mich in den Arm genommen und erklärt, dass es sich lohnt für seine Träume und Wünsche zu kämpfen. Und dass man niemals aufgeben solle, auch wenn sich die ganze Welt gegen einen stelle."

„Dein Vater scheint ein wirklich guter Mensch zu sein."

„Dein Vater bestimmt auch."

„Vielleicht war er das, aber das werde ich wohl nie erfahren. Immerhin musste er ja in den Freitod gehen, anstatt seinen Sohn großzuziehen", stieß ich bitter hervor.

Sie starrte mich an, dann lehnte sie sich langsam an mich und ich konnte ihre Körperwärme spüren. Unsicher schlang ich einen Arm um sie.

Der Graf, der gerade dabei war, Hannah zu umarmen, begegnete meinem Blick und lächelte. Nachdem ihn Hannah endlich losgelassen hatte, zog er seine Kapuze tiefer in die Stirn und hob die Hand.

Dann schritt er durch die Tür und trat auf Ander zu, der den Schimmel am Zügel hielt. Obwohl das einzige Pferd, das die beiden Geschwister noch besaßen, bereits über dreißig war, hatten die beiden noch einige verstaubte Sättel im Stall gefunden. Einen davon trug der Schimmel jetzt auf dem Rücken. Er saß gut genug, um dem Wallach keine Schmerzen zu bereiten.

Der Graf stieg auf und trieb sein Reittier an. Alyn und ich folgten Hannah nach draußen und wir winkten ihm, bis er hinter einer Häuserecke verschwunden war. Dann traten wir zurück ins Innere des Hauses.

Ich runzelte die Stirn, da mir auf einmal dämmerte, dass wir irgendetwas vergessen hatten. Mich durchfuhr es wie ein Blitz und ich stürmte in den Salon, den ich allerdings verlassen vorfand.

Ich fluchte.

Mir war klar, worauf sie aus war. Durch die Vordertür konnte sie nicht, also die Hintertür.

Auf dem Weg zu dieser kam ich an einem Fenster vorbei. Eine Bewegung aus dem Augenwinkel erregte meine Aufmerksamkeit.

Ich grinste. Lautlos öffnete und schloss ich die Türe. Rosena hing hilflos an der hohen Steinmauer und versuchte sie verzweifelt zu erklimmen. Sie hatte es tatsächlich geschafft, das erste Stück zu überwinden, klammerte sich aber jetzt an einem kleinen Mauervorsprung fest, unfähig weiterklettern zu können.

Die Chroniken von Seyl 1 - Die Macht der EdelsteineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt