2. Willst du Maria anrufen?

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°○ Leon ○°

"Wo hast du Maria gelassen?", wollte Verena wissen, schraubte sich eine Flasche Cola auf und goss damit ihr Glas voll, welches sie zuvor schon zur Hälfte mit Rum gefüllt hatte.
"Die kann heute nicht", antwortete ich.
Ali grinste. "Hat wohl zu tief in die Schnabeltasse geschaut."
"Maul!", sagte ich.
"Oder ihr hat es ein bisschen im Hals gekratzt", fuhr Ali fort, hielt sich eine Hand an den Hals und räusperte sich dann mehrmals übertrieben geziert. "Und deswegen musste sie dann gleich mit Blaulicht ins Krankenhaus."
"Ja, genau!", sagte ich. "Dann braucht sie jetzt wenigstens nicht deine hässliche Fresse hier ertragen."
"Vielleicht geh ich sie ja noch besuchen."
"Lieber nicht! Sonst springen ihr die Augen noch freiwillig aus dem Kopf!"
"Könnt ihr jetzt mal mit eurem Gezicke aufhören?", mischte Mehmet sich ein. "Das hält ja kein Mensch aus!"
"Gib mir mal noch einen Energy!", rief ich ihm zu, da löste Mehmet eine Dose von dem Sechserpack, welcher unterm Tisch nahe dem Sessel auf dem Boden stand und warf sie mir zu.
Ich fing sie, dann verzog ich das Gesicht. "Doch nicht Zero!"
"Was anderes haben wir nicht."
"Das schmeckt doch nach Kotze!"
Mehmet zuckte die Achseln. "Pech!"
Ich verdrehte die Augen, dann öffnete ich die Dose, leerte sie ins Glas und mischte die orangefarbene Flüssigkeit mit einem großzügigen Schluck Wodka.
"Du meinst es aber auch ernst heute", meinte Mehmet und zog angesichts meiner Mische missbilligend die Augenbrauen hoch.
Ich antwortete ihm nicht, nahm stattdessen das Glas und leerte es in einem Zug, den Blick dabei unverwandt auf ihn gerichtet.
"Glaub mal nicht, dass ich dir Händchen halte, wenn du kotzen musst!"
"Wer sagt, dass ich kotzen muss?", fragte ich.
"Alter, du musst immer kotzen!", höhnte Ali.
"Vor allem, wenn du schon so anfängst", meinte Mehmet. Er nickte zu den drei leeren Energy-Dosen zu meinen Füßen, welche ich inzwischen geleert hatte.
"Hör mal lieber auf, hier einen auf Spießer zu machen und werf mir noch eins rüber!", sagte ich.
Mehmet verschränkte die Arme vor der Brust. "Das heißt bitte!"
"Na schön!" Wieder verdrehte ich die Augen."Werf mir bitte mal einen Energy her... du Penner!"
Zuerst schien Mehmet meiner Aufforderung nicht nachkommen zu wollen, dann warf er mir doch die nächste Dose zu. "Deine Beerdigung."
Ja, wie auch immer, dachte ich und warf einen Blick zur Uhr an der Wand überm Fernseher. Schon halb zehn.
Was Maria wohl gerade machte. Wie ging es ihr? Schlief sie schon?
Ich hätte sie jetzt gerne hier bei mir. Dann würde ich meinen Arm um sie legen. Ihr über den Rücken streicheln, so wie sie es gerne hatte.
Und ich würde sie küssen. Immer wieder.
"Wann wollen wir los?", fragte Mehmet, nahm noch einen Schluck von seinem Energy und unterdrückte einen Rülpser; das tat er immer nur, wenn Mädchen mit dabei waren.
"So in einer Stunde, würde ich sagen", meinte Verena.
"Mal nicht so früh!", erwiderte Ali. "Um die Zeit ist im Zoney doch noch gar nichts los."
"Ja... aber was sollen wir denn dauernd hier rumsitzen?"
"Wieso nicht? Ist doch nett."
Verena verdrehte die Augen, nahm ihr Glas vom Tisch und trank es aus.
"Was ist denn?", fragte Ali und legte einen Arm um sie. "Bist du schlecht drauf?"
"Nein... mir ist langweilig", jammerte Verena.
Ali grinste. "Das können wir schnell ändern", sagte er, beugte sich zu Verena rüber, begann sie in der Halsbeuge zu küssen und wollte ihr dabei mit der Hand unter den Pullover fahren, woraufhin Verena ihn kichernd von sich schob.
"Nicht hier, du Eumel!"
"Wir können ja auch nach nebenan gehen."
"Nein, könnt ihr nicht!", fuhr Mehmet Ali dazwischen.
"Ach komm! Jetzt stell dich mal nicht so an!", sagte Ali. "Leon und Maria hast du doch auch hier miteinander rummachen lassen."
"Da war ich ja auch nicht dabei."
"Hast du noch Pizza da?", fragte ich.
"Nur noch die mit Thunfisch", antwortete Mehmet. "Im Tiefkühlfach."
"Na toll!"
"Wir können uns gleich auch noch Döner holen", schlug Ali vor.
"Gute Idee!", sagte ich.
"Dann hast du wenigstens später auch was zum Auskotzen!"
"Jetzt laber keinen Scheiß! Ich werd nicht kotzen!", entgegnete ich, stand auf und lief zur Tür. "Will jemand noch ein Bier?"

°○ Maria ○°

Den Rest des Abends hatte ich in meinem Zimmer verbracht, oder... ja, mein Zimmer war es ja nicht wirklich, genauso wenig wie es mein Schlafanzug war, welchen ich gerade trug oder mein Handy, welches jetzt im Hinterzimmer des Büros in meinem Fach lag.
Sollte ich zu Stella gehen und danach fragen? Leon dürfte ich doch sicher anrufen. Wobei der sicher gerade auch besseres zu tun hatte, als mit seiner gestörten Freundin zu telefonieren, welche gerade ihr Zuhause verloren hatte und von jetzt auf gleich in eine Wohngruppe gesteckt worden war, nur weil so eine blöde Kuh gemeint hätte, das müsste so.
"Glaub mir, das ist im Moment das Beste für dich", hatte sie gesagt, dieses dürre Klappergestell mit den Froschaugen. Nikos liebe Kollegin vom Jugendamt.
Von wegen lieb!
Was war bitte lieb daran, Kinder von ihren Eltern wegzuholen und sie in irgendein Gefängnis mit verriegelten Türen und Fenstern, von denen die Griffe abgeschraubt worden waren, zu stecken und darin wohnen zu lassen - für wie lange auch immer? Und das Ganze dann noch mit einem Haufen Verrückter, von denen manche so hinterlistig waren, dass man ihnen besser nie den Rücken zudrehen sollte! Besser, man ging ihnen gleich komplett aus dem Weg.
Und genau das würde ich auch tun, jeden Tag, wann immer mir das möglich war. Und ganz egal, was die Betreuer sagten. Die konnten mich ja nicht zwingen, mich zu den anderen ins Wohnzimmer zu setzen und mir mit ihnen Die Zeit zu verschwenden.
Heute hatten sie einen Filmabend gemacht. Die Schöne und das Biest hatten sie sich angesehen.
Mich hatten sie auch gefragt. Ich hatte nicht mehr mitgezählt, wie oft.
Zuerst war Stella gekommen. Dann Alex. Anschließend hatten sie mich gerufen. Und schließlich, nachdem ich ihrer zum Kotzen freundliche Aufforderung, sich doch dazu zu setzen mit dem Hinweis, es gäbe auch selbst gemachtes Popcorn und für jeden einen Süßigkeiten-Teller, nicht nachgekommen war, hatten sie sogar Eileen zu mir geschickt.
"Ist mir ja ganz egal, ob du kommst! Tu es, oder lass es bleiben! Aber ewig wirst du dich eh nicht hier in deinem Bunker verkriechen können."
Ich war nicht gekommen. Ich hatte mich verkrochen. Und ich würde es auch weiterhin tun, solange bis sie mich wieder zu Vater lassen würden.
Ich vermisste ihn so sehr! Und allein bei dem Gedanken, unter welchen Umständen wir das letzte Mal auseinander gegangen waren, könnte ich schon wieder durchdrehen.
Ich hatte ihn von mir gestoßen! Ich war vor ihm weggerannt, aus dem Haus und dann die Straße runter, so schnell und soweit mich meine Füße getragen hatten. Und dann war da Leon gewesen, er hatte mich versteckt, dann hatte er mich zu Mehmet gebracht. Und am nächsten Tag war er mit mir zum Arzt gegangen, ganz egal, wie oft ich ihm gesagt hatte, dass ich das nicht wollte. Er hatte mich dazu gezwungen, mitzugehen. Mich dazu gezwungen, mich ins Wartezimmer voller Leute zu setzen und später dann ins Behandlungszimmer. Er hatte dabeigesessen und zugehört, wie der Arzt mich mit tausenden von Fragen durchlöchert hatte, eine noch schlimmer als die andere.
"Hast du schon mal daran gedacht, dich umzubringen?"
Selbst wenn, da ging niemandem was von an, dachte ich, genauso wenig, wie irgendjemandem was davon anging, wie alt ich war, was meine Hobbies waren. Oder was bei mir Zuhause passierte!
"Vater sagt immer... dass ich... alles machen soll und... dass ich erst denken soll... richtig reden und... lieb sein....immer... dann ist alles gut."
"Und wenn du das nicht machst, wird er böse mit dir."
"Ja... dann... sagt er... dass ich lieb sein soll und... dann muss ich das... wieder gut machen."
"Wieder gut machen?"
"Er wird dann immer richtig böse mit mir."
"Und wie musst du das dann wieder gut machen?"
"Ja... ich... soll dann... immer lieb zu ihm sein."
"Was bedeutet das? Was musst du tun?"
Warum hatte Niko mich das alles gefragt? Warum hatte er mich nicht in Ruhe gelassen? Warum hatte er immer weiter gemacht, fragte ich mich und vergrub den Kopf in mein Kissen, als Tränen an meinem Gesicht hinabzulaufen begannen, als ob ich heute nicht schon genug geweint hätte.
Aber früher, da hatte man mich dann wenigstens in Ruhe gelassen. Da hatte ich mich in meinem Zimmer eingeschlossen, nachdem Vater mit mir fertig gewesen war und dann hatte es niemanden interessiert, wie oft und wie lange ich weinte. Selbst, wenn ich gar nicht mehr damit aufgehört hatte. Wenn ich mich in den Schlaf geweint hatte.
Vater hatte es immer gehasst, wenn ich so weinte. Vor ihm hatte ich das niemals gedurft. Da hatte ich mich immer zusammenreißen müssen. Aber wenn ich geweint hätte, leise und alleine für mich, dann hatte er mich in Ruhe gelassen. Da war er nie zu mir ins Zimmer gekommen. Hier kam ständig jemand ins Zimmer. Fragte einem, ob alles gut war. Ob man sich mit zu den anderen setzen wollte. Ob man reden wollte.
Zum Abschließen bekamen die Bewohner hier ja natürlich keine Schlüssel. So konnte einem hier dann auch jeder so viel und so lange auf die Nerven gehen, wie er nur wollte!
Es klopfte an der Tür.
"Maria?" Stellas Stimme.
"Ich kann jetzt nicht!", rief ich, da wurde die Tür geöffnet, gerade so, als hätte ich darum gebeten.
Stella trat ein.
"Kannst du nicht schlafen?"
"Nein", sagte ich, schniefte und wischte mir mit dem Zipfel der rosa-grau gestreiften Bettdecke durchs Gesicht.
"Willst du vielleicht einen Tee?"
"Nein", sagte ich wieder.
"Was ist denn los?"
"Nichts."
"Und warum weinst du dann?"
"Ich weiß nicht."
"Hm." Stella rückte noch ein Stück weiter zu mir auf und streichelte mir sanft mit der Hand über dem Arm. "Das war heute auch alles ein bisschen viel für dich, oder?"
Ich nickte.
"Die neue Umgebung, die ganzen Leute hier, die du nicht kennst. Das ist bestimmt nicht leicht für dich."
Ich nickte, hob wieder die Bettdecke ans Gesicht und wollte mir damit durchs Gesicht wischen, da legte Stella ihre Hand auf meine und drückte sie leicht wieder runter.
"Lass das mal!" Sie zog die oberste Schublade des Nachtschranks auf, holte ein Päckchen Taschentücher daraus und gab es mir. "Hier benutz mal besser die!"
"Danke." Ich nahm das Päckchen, zog ein Tuch daraus, entfaltete es und wischte mir damit durchs Gesicht.
"Veränderungen sind immer schwer." Wieder fuhr Stella mir mit der Hand über den Arm. "Für die anderen Kinder, die hier sind, war das alles auch genauso, glaub mir. Die mussten sich auch jeder erst hier einleben und sich an das ganze Neue gewöhnen. Das braucht alles seine Zeit."
Aber ich will mich doch gar nicht einleben, dachte ich, weder hier noch an sonst irgendeinem Ort, von dem diese Penner vom Jugendamt meinten, mich hinstecken zu müssen. Ich wollte mich an nichts Neues gewöhnen! Ich wollte, dass alles wieder so war, wie früher.
Stattdessen war jetzt alles anders.
Jetzt war ich weg von Zuhause. Weg von Vater. Weg von allem, wie ich es kannte. Und ich käme sicher nie wieder zurück!

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Where stories live. Discover now