75. Ihr kennt euch?

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°○ Leon ○°

"Los jetzt, lauf mal schneller!"
"Kann nicht schnell." Minchen blieb stehen. "Will schlafen!"
"Glaub mal nicht, dass ich dich trage!"
"Leon, bitte!"
"Nichts da bitte! Die paar Meter schaffst du noch!"
Unter meinem Gips juckte es.
Und meine Nase lief auch schon wieder. Das lag aber wohl noch eher an diesem verdammt nass-kalten Wetter als an meinem Schnupfen, der war heute schon gar nicht mehr ganz so schlimm.
"Vielleicht stimmt es ja wirklich." Maria zu meiner linken.
Ich sah sie an. "Wie meinst du das?"
"Vielleicht ist sie wirklich müde."
"Dann hat sie halt Pech gehabt!", meinte ich.
"Leon, bitte tragen!"
"Wir sind doch gleich schon da!" Ich nahm mir ein Taschentuch und schnäuzte mich. "Streng dich mal ein bisschen an!"
Den ganzen Tag über war meine Schwester schon so am jammern gewesen. Schon morgens hatte sie nicht aufstehen wollen, geschweige denn sich anziehen oder Zähneputzen.
Im Kindergarten war es dann wohl so weiter gegangen. Da hatte es sie keine fünf Minuten aufm Stuhl gehalten. Bei allem hatte sie rumgebockt und auch Emma hatte wieder dran glauben müssen.
Die arme Kleine!
Nächste Woche würde ich mal wieder auf sie aufpassen, dann kümmerte sich wenigstens mal einer um sie. Anstatt sie immer nur-
"Jasmin!"
Meine Schwester hatte sich auf den Boden gesetzt. "Meine Fresse, was soll der Scheiß?"
"Kann nicht mehr laufen!"
"Steh wieder auf!" Ich zog an ihrem Arm, da ließ sie sich hängen. "Immer dieses Theater! Als ob du son Baby bist!"
"Bin kein Baby! Maria ist Baby!"
"Die kann aber laufen, im Gegensatz zu dir! Hier!", sagte ich und reichte Maria Minchens Rucksack. "Kannst du den mal nehmen, Süße?"
Ich trug meine Schwester den Rest des Weges, bis hin zum Eingang von Station 4: Innere Medizin/ Onkologie.
Dort setzte ich sie auf dem Boden ab.
"So, du kleines Teufelskind! Ab hier kannst du meinetwegen kriechen, wenn du anders nicht weiterkommst!"
"Wieso warst du hier auf Station?", wollte Maria wissen. "Hättest du nicht auf die Orthopädie gehört? Die machen das doch mit Knochenbrüchen."
"Ja, keine Ahnung." Ich zuckte mit den Achseln. "Die hatten wohl kein Bett mehr frei, hatte die eine Schwester gemeint."
Zimmer Nummer 3.
"Denkst du, er liegt hier noch?"
"Gucken wir", meinte ich und klopfte an die Tür.
"Herein?"
Ich trat ein.
"Guten Tag!"
"Moin!", begrüßten mich ein Mann, kahlköpfig und dazu noch kränklich blass sowie eine Frau, schätzungsweise in ihren Vierzigern, mit Schläuchen in der Nase.
Ich sah mich um.
Wo war Willi?
Hatte er das Zimmer gewechselt? Oder vielleicht sogar wieder auf die Intensiv? An sich war es ihm doch gut gegangen, da könnten sie ihn auch bereits entlassen haben.
"Sucht ihr jemanden?" Der Mann setzte sich mühsam in seinem Bett auf.
"Ja, wir wollten einen älteren Herrn namens Willi besuchen, also Wilfried", antwortete ich. "Den Nachnamen weiß ich leider nicht."
"Willi", wiederholte der Mann.
"Genau", meinte ich. "Der hat bis vorgestern noch hier gelegen, da wo sie jetzt liegt." Bei diesen Worten wies ich zu der Frau.
"Bist du ein Verwandter?"
"Von Willi? Nein. Aber wir sind Freunde, könnte man sagen." Oder vielleicht war das auch übertrieben, überlegte ich und spürte gleichzeitig, wie Minchen ihren Kopf an meiner Hüfte verbarg, woraufhin ich ihr behutsam durchs Haar strich. "Ich war bis vorgestern auch noch hier, da haben Willi und ich uns kennen gelernt. Und als ich ging, hatte ich ihm-"
Ein schnelles Klopfen an der Tür, kurz darauf betrat eine Krankenschwester das Zimmer, einen Tropfbeutel in der Hand: "Guten Tag, ich komme einmal zum Auswechseln."
Ich erkannte sie wieder.
Es war Madeleine, wobei ihr Name auch auf dem Schildchen stand, welches an ihrer Brust hing; die nette Dicke, die mir nach meiner ersten Nacht hier mein Frühstück gebracht hatte.
"Ansonsten alles in Ordnung?" Sie ließ ihren Blick einmal durch den Raum wandern. Und blieb an meinem Gesicht hängen.
"Leon!" Ihr Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. "Was tust du denn wieder hier, so schnell? Alles klar bei dir?"
"Ja", sagte ich mit belegter Stimme und räusperte mich dann. "Mir geht's gut. Ich- also wir sind nur hier, um Willi zu besuchen. Das ist meine Freundin Maria." Ich nickte zu meiner rechten. "Und meine Schwester Jasmin", fuhr ich fort und kraulte Minchen dabei abermals den Kopf. "Kannst du uns sagen, wo Willi ist?"
Madeleine antwortete nicht.
"Ist er schon nach Hause gegangen?", fragte ich weiter. "Oder musste er wieder auf die Intensiv?"
"Er war wieder auf die Intensiv gebracht worden, ja..."
Ich zog die Brauen zusamnen. "War?" Was sollte das bedeuten? Und warum vermied Madeleine es schon die ganze Zeit, mich anzusehen, seit dem Moment, in welchem ich Willi erwähnt hatte?
"Wo ist Willi jetzt?"
Erneutes Schweigen, diesmal schien es zum Schneiden dick.
Auch ich senkte jetzt den Blick, noch gerade früh genug.
"Ich hab dir eigentlich schon viel zu viel erzählt, Leon, du bist ja kein-"
"Ist er tot?"
Madeleine seufzte. "Es tut mir leid."
"Ja..." Ich schniefte, wischte mir dann schnell die Tränen weg. "Das kommt jetzt gerade ziemlich überraschend."
"Er war schon sehr krank."
"Ich weiß."
"Möchtest du mal ein Glas Wasser?"
"Nein, danke", krächzte ich, gefolgt von neuem Räuspern. "Ich glaub, ich geh mal lieber raus."

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt