41. Bleib stehen!

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°○ Leon ○°

"Ist doch gut jetzt, Minchen, meine Güte!", lachte ich, hob meine Schwester auf meinen Arm und küsste sie. "Was bist du denn für ein Angsthase?" Minchens Bommelmütze war verrutscht. Ich zog sie ihr wieder über die Ohren. "Willst du nochmal rutschen?"
Minchen antwortete nicht, vergrub das Gesicht stattdessen in meiner Schulter, das brachte mich wieder zum Lachen. Ich gab ihr noch einen Kuss in den Nacken. Dann begann ich zu singen: "Angsthase, Pfeffernase! Morgen kommt der... Na, wer?"
"Osterhase", grummelte Minchen.
"Genau!", sagte ich. "Wollen wir denn jetzt noch- Süße! Was machst du denn hier?"
Maria antwortete nicht.
"Komm mal her!"
Keine Reaktion.
"Süße!", rief ich, da schien Maria endlich aus ihrer Erstarrung zu erwachen.
Sie kam auf mich zu, wobei sie noch eher humpelte, als wirklich zu laufen. "Ich hab gerade erst versucht dich anzurufen." Ich nahm Maria in den Arm, wobei ich immer noch Minchen an der Hüfte trug, und wir küssten uns.
Darüber war meine Schwester natürlich mal wieder alles andere als begeistert. "Doofe weg!"
"Was denn?" Ich lachte. "Willst du auch noch einen Kuss haben?"
"Ja, will ich haben", antwortete Minchen. "Aber die Doofe soll nicht küssen."
"Wie heißt meine Freundin?", fragte ich und bedachte meine Schwester mit einem strengen Blick.
"Maria", kam es nach einigem Zögern, fast flüsternd.
"Maria, genau", sagte ich, dann drückte ich meiner Schwester noch einen Kuss auf die Wange.
"Jetzt sag mal: Hallo Maria!"
"Hallo Maria!", sprach Minchen mir nach und würdigte Maria dabei keines Blickes. Aber gut, dachte ich, das war immer noch besser als gar nichts.
"Hallo Min- äh, Jasmin. Spielst du schön?"
"Du kannst sie auch ruhig Minchen nennen", meinte ich.
"Okay." Maria zuckte die Achseln.
"Wie geht es dir?", fragte ich sie.
"Gut."
"Hast du dich für mich so hübsch gemacht?"
Maria nickte, da grinste ich. Und setzte meine Schwester auf dem Boden ab:
"Komm, geh mal weiterspielen!"
"Ich will mit dir spielen."
"Das geht jetzt gerade nicht."
"Will Schaukel schubsen!"
"Gleich wieder, okay?"
Ich kramte eine Packung Lucky Pins aus meiner Manteltasche, nahm eine Zigarette und schob sie mir zwischen die Lippen.
"Willst du auch?"
Maria schüttelte den Kopf. "Nein, danke."
"Wie war es denn heute in der Schule?"
"Geht so... wir haben einen Mathetest geschrieben, so einen unangekündigten."
"Okay..." Ich zog an meiner Zigarette."Dann ist es ja gut, dass ich nicht da war."
"So schwer war das eigentlich gar nicht."
"Ja, für dich nicht. Aber ich hätte da doch locker wieder ne Sechs reingesetzt."
"Hättest ja bei mir abschreiben können", meinte Maria. "Das geht bei Banowski eigentlich ganz leicht. Der kriegt nie was mit."
"Ja... der pennt auch eher, als dass er wach ist", sagte ich und nahm noch einen Zug. "Warst du gerade noch bei Eddie?"
"Nein, wieso?", fragte Maria zurück, als ob sie jetzt wirklich so überrascht darüber war, dass ich das wissen wollte.
"Hätte ja sein können, dass er dir wieder Nachhilfe gibt", erklärte ich, darauf stieß Maria ein empörtes Lachen aus.
"Ich hätte mich auch genauso gut so mit ihm treffen können!"
"Und? Hast du?", wollte ich wissen.
"Nein!", rief Maria, nun fast schon beleidigt. "Ich wollte zu dir. Darum bin ich auch erst zum Tankshop gelaufen und-"
"Du bist gelaufen?", unterbrach ich sie.
"Ja."
"Von wo?"
"Von der Wohngruppe."
"Warum?"
"War ja nicht weit."
"Du hättest doch auch den Bus nehmen können."
"Ja... ich wollt halt lieber laufen."
"In den hohen Stiefeln?" Ich lachte. "Du spinnst doch!"
"Sag das nicht immer!"
"Darum humpelst du auch", stellte ich fest. "Das hatte mich schon gewundert."
Maria schwieg.
Ich rauchte. "Nachher guck ich mir das mal an, bei deinen Füßen. Da hast du dir garantiert Blasen reingelaufen."
"Na und?" Maria zuckte die Achseln. "Die gehen auch wieder weg."
"Willst du dich mal auf die Bank setzen?"
"Nein."
"Oder schaukeln?"
"Das ist doch Kinderscheiße!"
"Warum?"
"Weil das nur kleine Kinder machen?"
"Ich schaukel auch gerne."
"Du bist sechzehn!"
"Ja und?"
"Leon, bitte Schaukel schubsen!", rief Minchen in diesem Moment von der anderen Seite des Spielplatzes.
"Ich muss eben aufrauchen, okay? Dann kommen wir", antwortete Leon.
"Geh mal noch ein bisschen rutschen!"
"Mag nicht Rutschen! Will lieber Schaukel schubsen!"
"Ja... das mit dem Rutschen muss ich ihr noch beibringen", erzählte ich. "Das traut sie sich irgendwie nicht."
"Ich mochte das früher auch nicht", gestand Maria.
"Ja, du mochtest gar nichts davon, weder Rutschen, noch Klettern oder sonst irgendwas! Daran erinnere ich mich noch."
"Ich mochte gerne im Sandkasten spielen."
"Ja... solange da keine Tiere drin waren. Käfer oder Spinnen."
"Oder Schnecken."
"Leon!" Wieder Minchen.
"Gleich!", rief ich in Richtung der Schaukeln. "Was sollen denn Schnecken im Sandkasten?"
"Die waren da nie direkt drin", antwortete Maria. "Nur immer auf dem Rasen daneben."
"Wie wäre es, wenn du da mal hoch kletterst?" Ich wies zur Seilpyramide.
Maria lachte wieder auf. "Im Leben nicht!"
"Mach doch mal!", sagte ich. "Nur eben versuchen."
"Ich kann das nicht."
"Versuch's!" Ich packte Maria am Arm. "Komm, das will ich jetzt mal sehen." Mit diesen Worten zog ich sie mit mir zur Pyramide, was an sich nichts anderes war, als eine etwa fünf Meter hohe Stange, um die sich pyramidenartig dicke orangefarbene Seile längs und quer entlang spannten.
"Einmal bis zur Spitze!"
"Ich kann das nicht."
"Die meisten Dreijährigen können das!", meinte ich und führte Maria noch ein paar Schritte weiter Richtung Pyramide. "Los, mach!"
"Da komm ich garantiert nicht mehr runter." Sichtlich beklommen blickte Maria zu der Stange hinauf. "Wenn ich denn überhaupt hoch komme."
"Das kriegst du schon hin."
"Ja, toll! Und was ist, wenn ich nicht mehr runterkomme?"
Ich zuckte mit den Schultern. "Dann bleibst du oben."
"Witzig!"
"Ja, was soll denn überhaupt die Frage?", regte ich mich auf. "Natürlich hol ich dich dann runter! Meine Fresse!"
Maria erwiderte meinen Blick, dabei schien es einen Moment lang so, als wollte sie noch etwas sagen, wahrscheinlich einen ihrer Standart-Sätze wie "Fick dich!" oder "Du bist gemein!", schließlich schwieg sie aber.
"Gehst du nun da hoch?" Ich nickte zur Pyramidenspitze.
Maria schüttelte den Kopf. "Lieber nicht."
"Dir passiert da nichts, Süße", versicherte ich ihr, legte meine Arme um sie und sah ihr in die Augen. "Da pass ich schon drauf auf." Ich küsste sie. "Komm jetzt!"
Maria seufzte, dann endlich gab sie nach, packte mit den Händen jeweils eines der Seile, setzte einen Fuß auf ein anderes.
Und verharrte dann so.
"Was denn, Süße? Komm, weiter!"
"Ich kann das nicht."
"Natürlich kannst du das!", entgegnete ich. "Jetzt hochziehen und dann packst du mit den Händen die nächsten Seile."
Maria zögerte.
"Du musst da keine Angst vor haben." Ich strich ihr über den Rücken. "Wie gesagt, dir passiert da nichts. Komm, trau dich ruhig!"
Einen weiteren gefühlt tausend Jahre langen Moment lang hielt Marias Starre noch an, dann endlich begann sie zu klettern, sehr langsam zwar und derart unbeholfen, dass ich schon fest damit rechnete, ihr jeden Augenblick zur Hilfe kommen zu müssen, aber immerhin ging es voran.
"Super!", lobte ich Maria, als sie nach einer scheinbaren Ewigkeit schließlich die Spitze der Pyramide erreichte. "Hab ich doch gesagt, du schaffst das!"
"Ja..." Maria lachte, diesmal klang es schrill, fast schon hysterisch. "Und wie komm ich jetzt wieder runter?"
"Genauso wie du hoch gekommen bist", antwortete ich. "Nur rückwärts."
"Das schaff ich nie!"
"Nun fang nicht schon wieder damit an!", rief ich. "Mach einfach!"
"Aber ich weiß doch gar-"
"Und hör auf zu jammern!"
"Du hast eben noch gesagt, du hilfst mir!"
"Ja, wenn du es selber nicht hinkriegst."
"Seh ich für dich so aus, als ob ich es hinkriege?"
"Du bist doch auch hochgekommen!"
"Das heißt ja noch lange nicht, dass-"
"Wenn du mal weniger labern und dafür mehr in die Gänge kommen würdest, wärst du schon längst wieder unten!", fuhr ich Maria dazwischen.
Darauf sagte sie nichts mehr, musterte dafür die Seile unter ihr, einen ganzen Moment lang, dann begann sie daran hinunter zu klettern. Und diesmal stellte sie sich dabei noch deutlich geschickter an, als beim Hinaufklettern.
Machte wohl Sinn, das mit dem Sport bei Maria ab und an mal auf Günthers Art anzugehen, auch wenn ich an sich natürlich lieber nett zu ihr sein wollte.
"Sieh mal einer an! Es klappt doch!", meinte ich, kam auf Maria zu, nachdem diese gerade mal wieder festen Boden unter den Füßen hatte, nahm sie in den Arm und wollte sie küssen, doch sie ließ mich nicht.
"Du bist gemein!"
"Ich weiß", meinte ich und grinste, hörte damit jedoch sofort wieder auf, als Maria meinen Blick erwiderte. In ihren Augen glitzerte es.
Sie war verletzt und viel fehlte da wohl auch nicht mehr, bis das Geheule wieder losgehen würde.
"Tut mir leid, okay?"
Ich strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, versuchte sie erneut zu küssen, diesmal ließ sie mich.
"Ich wollt dir nur helfen, dass du das mit dem Klettern schaffst."
"Schön!", zischte Maria. "Das hast du ja hingekriegt!"
"Dann freu dich doch!", sagte ich, darauf folgte ein weiteres humorloses Lachen. "Ja, wow! Ich trink gleich einen drauf!"
"Wollen wir uns gerade mal irgendwo hinsetzen?"
"Nein!",
"Gut..."
Was hatte die schon wieder für ein Problem?
"Dann geh ich mal zu Minchen", meinte ich und lief rüber zu meiner Schwester, die war immer noch bei den Schaukeln, hatte sich inzwischen mit dem Bauch voran über eine von ihnen gelegt und ließ sich nun von ihr halb rennend halb hängend hin- und herpendeln.
"Soll ich dich jetzt anschubsen?"
"Ja!"
"Dann setz dich mal richtig hin!"
Minchen kam meiner Aufforderung nach. Oder wenigstens versuchte sie es, unternahm mehrere Anläufe, um mit dem Hintern voran auf die Schaukel zu springen und stieß dann ein frustriertes Knurren aus, als es ihr immer noch nicht gelang.
Ich gluckste. "Wird das heute noch was?"
"Bitte hilf mir!"
"Ich halte mit fest, okay?", antwortete ich, stellte mich hinter Minchen und packte die Seile der Schaukel. "Und jetzt springst du noch mal so hoch, wie du kannst!"
"Ich kann nicht springen!", sagte Minchen. "Heb mich hoch!"
"Nein! Komm, versuch noch mal selber!", ermutigte ich sie. "Gerade eben hattest du es doch auch schon fast."
Das war natürlich gelogen, aber schadete ja nicht, wenn Minchen was anderes dachte, überlegte ich und tatsächlich schaffte es meine Schwester dann auch nach zwei weiteren Hüpfern, auf die Schaukel zu kommen.
"Super!" Ich küsste sie. "Jetzt hast du es doch hingekriegt!" Aber üben müsste Minchen es trotzdem noch, bis es halbwegs gekonnt aussah, überlegte ich. Und das betraf nicht nur das Schaukeln.
Da würde ich auf jeden Fall noch dran bleiben, nicht dass meine Schwester in zehn Jahren noch genau so eine Nullnummer in Sport sein würde, wie Maria.
Ich wandte mich zu ihr um.
"Kommst du zu uns rüber oder willst du da stehen bleiben?"
Maria antwortete nicht, kam nach einigem, wie es schien, unschlüssigen Rumgezwierbel an den Kordeln ihrer Jacke aber schließlich doch noch angeschlurft.
Ich begann Minchen auf der Schaukel anzuschubsen, daraufhin stieß diese ein erfreutes Quieken aus.
Maria beobachtete uns schweigend, schien sich sogar ein Lächeln zu verkneifen, als ich mich vor Minchen stellte und jedes Mal, wenn sie zu mir geschwungen kam, ein wildes Knurren ausstieß und so tat, als würde ich sie packen wollen, was meine Schwester so laut zum Lachen brachte, dass sie davon husten musste.
"Ich will jetzt auch mal schaukeln", meinte ich nach einer Weile.
"Aber du musst weiter schubsen!", sagte Minchen.
"Versuch es mal selber", schlug ich vor, lief zur Schaukel neben der von Minchen und setzte mich drauf.
"Ich will nicht selber!", protestierte meine Schwester.
"Aber so schwer ist das gar nicht, Minchen. Guck mal, wie ich das mache!", meinte ich und fing an, Anschwung zu nehmen.
"Leon, mach Kitzelmonster, bitte!"
"Das machen wir gleich wieder", versprach ich, dann schaute ich Maria an. "Wollen wir beide mal zusammen schaukeln?"
"Nee, lass mal", meinte Maria. "Wäre ja blöd für Jasmin, wenn-"
"Ich meine wir beide auf dieser Schaukel." Ich bremste mich mit den Füßen ab. "Und du sitzt auf meinem Schoß."
"Achso... ja, okay."
"Dann komm!" Ich winkte Maria zu mir, die kam daraufhin vor mich, drehte mir den Rücken zu und-
"Nicht so!" Ich lachte. "Andersrum!"
"Wie andersrum?"
"Mit den Beinen hier so zwischen", erklärte ich und deutete auf die Lücken zwischen meiner Taille und den Seilen.
"Okay...", sagte Maria, wirkte dabei immer noch skeptisch, machte sich aber trotzdem dran, meiner Erklärung nach zu mir auf die Schaukel zu klettern.
"Gut festhalten, Süße!" Ich küsste sie, dann begann ich uns Anschwung zu geben.
"Hast du das noch nie gemacht?"
"Nee."
"Aber Mädchen machen das doch immer so."
"Stimmt doch gar nicht!", erwiderte Maria. "Ich hab das noch nie so gemacht. Und du bist ein Junge und du machst das jetzt doch genauso."
"Ich hab ja auch nicht gesagt, dass Jungs das nicht machen."
Wir schaukelten ein paar mal hin und her und das war schon ziemlich witzig mit Maria auf meinen Schenkeln, doch bald wurde es mir trotzdem schon etwas langweilig.
"Sollen wir noch ein bisschen höher?"
"Lieber nicht."
"Du kannst dich doch festhalten", meinte ich.
"Ich will trotzdem nicht höher."
"Jetzt stell dich nicht immer so an!" Ich nahm noch mehr Anschwung.
"Bitte... nicht so doll!"
"Mach doch die Augen zu", schlug ich vor. "Dann merkst du da nichts von."
Wir schaukelten weiter, bald schon so hoch, dass wir bereits fast in die Waagerechte kamen.
Ich schaute nach meiner Schwester, die war wieder dazu übergegangen, auf ihre Weise zu schaukeln, kopfüber mit dem Bauch auf dem Brett.
"Kannst du mich nicht wieder runterlassen?" Maria klang jetzt wie kurz vorm Heulen. "Ich hab Angst, so."
"Das brauchst du nicht, Süße", sagte ich.
"Hab ich aber trotzdem", erwiderte Maria, drehte den Kopf zur Seite. Nieste. Und ließ kurz darauf ein lautes Schniefen hören. Scheinbar war sie wohl doch nicht kurz vorm Heulen, stellte ich erleichtert fest, dafür schien ihre Nase allerdings mal wieder ziemlich voll zu sitzen. "Tut mir ja leid, dass ich nicht so cool bin wie du."
"Was hat das denn mit Coolsein zu tun?" Ich bremste ab. "Du musst einfach mal ein bisschen mutiger werden!", meinte ich und sah Maria an, die wich meinem Blick aus. Klar, was auch sonst?
"Möchtest du nun runter?"
Maria antwortete nicht sofort, dann schüttelte sie den Kopf. "Nein."
"Also willst du weiter schaukeln?", fragte ich.
"Ja... ich will jetzt auch nicht, dass du mich für einen Angsthasen hältst."
"Tu ich doch nicht", sagte ich, auch wenn es genau das war, wofür ich sie hielt und sang in Gedanken wieder das Lied von vorhin: Angsthase, Pfeffernase! Morgen kommt der-
"Angsthase, Pfeffernase! Morgen kommt der Osterhase!", unterbrach Minchen meine Gedanken, als hätte sie die mit angehört.
"Angsthase, Pfeffernase!", sang sie erneut. "Morgen kommt der-"
"Minchen!", unterbrach ich sie. "Hör auf, sie zu ärgern!"
Ich nahm mir ein Taschentuch, schlug es auf und hielt es Maria dann vors Gesicht. "Komm, jetzt schnaub mal eben!"
Maria zögerte, sichtlich verlegen.
Dann schnäuzte sie sich.
"Noch mal, lauter!", forderte ich. "Richtig rausputzen, den Schnodder!"
"Babyschnodder!", rief meine Schwester.
"Halt den Mund!", wies ich sie zurecht, dann wandte ich mich wieder Maria zu. "Komm schon, Süße!"
"Doofe Ekelbaby!"
"Kräftig schnauben!"
Maria tat es.
"Doofee Eekeelbaaby!"
"Ich hab gesagt, du sollst den Mund halten!", fuhr ich Minchen an.
"Doofe Ekelbaby!", wiederholte diese. Und verfiel dann wieder in Gesang: "Baby, Baby, Baby! Doofe Ekel-"
"Jasmin!"
"baby. Baby, Baby-"
"Schluss jetzt! Verdammt noch mal! Was stimmt denn nicht mit dir?"
"Mag nicht doofe Ekelbaby."
"Und was bist du gerade?"
"Doofe Ekelbaby!" Jasmin hielt sich die Ohren zu und schimpfte weiter. "Doofe Ekelbaby! Doofe Ekelbaby!"
"Hör da mal nicht hin, Süße! Komm!"
Wir stiegen von der Schaukel. Minchen sang immer noch, lachte jetzt dabei.
"Pass mal auf!", raunte ich Maria zu, dann erhob ich meine Stimme. "Komm, Süße! Wir hauen ab. Hier ist es mir zu laut!"
Maria an der Hand hinter mir herführend lief ich in Richtung der Tür im Zaun, keine zehn Meter später hörte ich Minchen schon hinter uns.
"Leon, warte!"
Ich ignorierte sie.
"Leon, bitte warten!", wiederholte Minchen, jetzt noch lauter.
"Ich mach uns gleich mal einen Kakao", verkündete ich. "Und vielleicht hat Sabine ja auch ein paar Kekse gebacken." Wahrscheinlich noch eher einen Kuchen, dachte ich. Immerhin würde gleich wieder die Tusse vom Jugendamt vorbeikommen, da müssten wir ja wieder einen guten Eindruck machen. "Schade, dass Minchen da keine von abbekommen kann!"
"Wohl bekomm ich Kekse ab!", protestierte meine Schwester. "Und Kakao und-"
"Am Arsch!", fiel ich ihr ins Wort, während ich mich im Türrahmen stehend zu ihr umdrehte. "Böse Kinder kriegen nichts!"
"Ich bin nicht böse!"
"Nicht böse nennst du das?" Ich lachte. "Glaubst du, dass wir das witzig finden, was du hier alles von dir gibst?"
Minchen antwortete nicht. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, da setzte ich noch einen drauf:
"Das soll noch einen wundern, dass du keine Freunde im Kindergarten hast!"
"Ich hab wohl Freunde!"
"Ja, welche denn?", schrie ich sie an. "Du hast doch nie jemanden zum Spielen!"
Ein kurzer Augenblick der Stille, dann setzte das Geheule ein, orignal mit rot angelaufenem Gesicht und atemlosen Hicksern dazwischen, doch das war mir jetzt egal.
Ich nahm sie an die Hand und führte sie zusammen mit Maria an meiner anderen Seite zur Straße.
"Brauchst hier jetzt gar nicht so rumzuheulen! Überleg lieber mal vorher, wie du mit meiner Freundin redest!"
"Doofe Ekelscheuche!", schluchzte meine Schwester. "Babyfotze!"
"Jaja", meinte ich. "Mach mal ruhig so weiter! Dafür gehst heute dann direkt ins Bett nach dem Essen."
"Nein, ich-"
"Und Maria und ich gucken uns noch einen Film an", sprach ich weiter. "Schön zusammen bei mir im Bett! Und du bleibst alleine in deinem Zimmer!"
"Doofe soll nicht gucken!"
"Doch, das wird sie! Und dabei kuscheln wir!", meinte ich, legte einen Arm um Maria zu meiner rechten und drückte ihr einen Kuss auf die Wange, daraufhin fing meine Schwester noch hemmungsloser zu weinen an. Auch das war mir egal. Oder besser gesagt, ich wollte es so. Ich wollte, dass sie weinte! Aber leider, war sie nicht die einzige.
"Ist doch gut, Süße!" Ich begann Maria im Gehen über den Rücken zu streicheln. "Hey... jetzt beruhig dich mal wieder!", sagte ich, doch Maria dachte gar nicht daran, sich zu beruhigen, verfiel stattdessen nun ihrerseits in heftiges Schluchzen, blieb dabei zwar noch deutlich leiser als Minchen, zitterte dafür jedoch umso mehr. "Meine Schwester labert Scheiße, darauf musst du gar nicht hören."
Ich küsste sie wieder. "Gleich essen wir erst mal was leckeres. Und dann kannst du dir einen Film aussuchen. Den können wir auf meinem Handy gucken", schlug ich vor und schämte mich gleichzeitig dafür. Wie armselig war das bitte, keinen eigenen Fernseher zu haben, auf dem man streamen kann? "Vielleicht lässt Manuel uns ja auch an seinen Computer, wenn ich ihn frage."
"Das wird er nicht", krächzte Maria.
"Warten wir es ab", sagte ich. "Wie spät musst du heute denn wieder zu Hause sein?"
Maria schniefte. "Spätestens um einundzwanzig Uhr."
"Das ist doch gut." Ich blieb stehen. "Komm, schau mich mal an!" Ich schob Marias Kopf zu mir hoch. "Wer bist du?"
"Leon, bitte! Lass-"
"Wer bist du?", wiederholte ich meine Frage. "Sag mal!"
Maria verdrehte die Augen. "Ich bin Maria."
"Deine?", fragte ich weiter.
"Deine hübsche, süße Freundin, die immer viel zu lieb zu allen ist." Leise, fast wie ein Flüstern.
Abermals küsste ich sie. "Stimmt genau."
Maria senkte den Blick.
Ich wischte ihr mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. "Siehst du, das-"
In diesem Moment riss meine Schwester sich von mir los.
"Minchen! Bleib hier!"
Sie rannte los.
"Hey!"
Ich setzte ihr nach.
"Jetzt war-"
Etwas riss mir den Boden von den Füßen. Oder zumindest kam es mir so vor, aber bevor ich noch begreifen konnte, was hier eigentlich passierte, knallte ich schon hin, mit dem Hintern auf dem harten Boden unter mir. Ich befühlte ihn mit den Fingerspitzen. Eine zugefrorene Pfütze.
"Jasmin!" Ich sah nach meiner Schwester, die war immer noch am rennen, brauchte jetzt nur noch wenige Meter, bis sie die Königsstraße erreichen würde. Jene Straße, an der wir wohnten. Und welche um diese Zeit dank des Feierabendverkehrs immer besonders stark befahren war. "Komm zurück! Dahinten ist es gefährlich!", brüllte ich, während ich mich aufrappelte und weiter hinter Minchen herrannte, wobei es erst einige Schritte brauchte, bis ich meine eigentliche Sprintgeschwindigkeit wieder erreicht hatte.
Wichtige Sekunden, die letztlich den Unterschied machen könnten. Die darüber entschieden, ob ich schnell genug war.
"Minchen!" Ich rannte über die Pflastersteine, sprang über eine weitere Eisfläche, rannte weiter.
"Bleib stehen!"
Rannte.
"Bitte!"
Minchen hatte die Straße jetzt fast erreicht, keine fünf Meter trennten sie mehr von der Kreuzung. Von den Autos. Den Lastwagen, welche mit mindestens sechzig Stundenkilometern über den mit Salz bestreuten Teer schossen.
"Minchen!"
Ich legte noch an Tempo zu. Doch ich war nicht schnell genug, das wusste ich. Ich würde es nicht schaffen und-
Wie aus dem Nichts war er da.
Eddie.
Er packte meine Schwester, keine Sekunde zu früh. Und riss sie von der Straße runter.
Minchen brüllte vor Wut. Das laute Dröhnen eines LKWS übertönte es.
"Scheiße!" Ich erreichte meine Schwester, riss sie von Eddie los und zu mir herum.
"Sag mal, spinnst du?"
"Lass los!"
"Du kannst doch nicht einfach so auf die Straße rennen! Stell dir mal vor, du wärst gerade überfahren worden!", schimpfte ich und hörte, wie Maria hinter mir angerannt kam, dabei gleichzeitig keuchte, schluchzte und hustete, als hinge ihr Leben davon ab.
"Leon! Das... tut mir so leid... alles!", presste sie erstickt hervor. "Ich wollt das-"
"Gleich, Süße!", unterbrach ich sie. "Komm erst mal wieder runter! Eddie! Warte!"
Eddie hatte sich gerade wieder umgewandt und war zurück in Richtung Königsstraße gelaufen. Nun blieb er noch einmal stehen und drehte sich zu uns um.
"Was willst du?"
Ich lief auf ihn zu, zog Minchen dabei hinter mir her, wobei ich jetzt fest ihr Handgelenk umfasste.
"Du hast... meine Schwester gerettet", sagte ich.
"Ja..." Eddie zuckte mit den Schultern. "War schon knapp mit dem LKW."
"Der hätte sie überfahren, wenn du nicht da gewesen wärst."
Eddie musterte Minchen neben mir, dann zuckte er wieder mit den Schultern. "Kann gut sein."
"Danke", sagte ich.
"Ja... okay", meinte Eddie. Und wich in der nächsten Sekunde einige Schritte zurück, als Minchen nach ihm zu treten begann.
"Jasmin! Nein!" Ich zog sie von ihm weg. "Jetzt lass ihn doch in Ruhe, Scheiße noch mal!"
Ich hob Minchen hoch und warf sie mir mit dem Kopf voran über die Schulter, darauf reagierte sie mit wildem Geschrei und begann mit ihren kleinen Fäusten meinen Rücken zu bearbeiten.
"Meinst du, das tut mir jetzt weh?", fragte ich und lachte dabei.
Natürlich tat es weh, dachte ich, so weh wie es eben tat, wenn jemand einem auf mehr oder weniger frischen Wunden herumkloppte.
"Leon, lass mich runter!"
"Du tickst doch echt nicht mehr ganz richtig!" Ich sah wieder zu Eddie rüber, der stand jetzt vor Maria, rieb ihr über die Arme und suchte ihren Blick. "Maria? Was ist los?"
"Nichts."
"Warum weinst du?"
"Das kommt wegen Minchen", mischte ich mich ein. "Die war eben noch ziemlich scheiße zu ihr."
"Was hat sie denn gemacht?"
"Nur beleidigt, so... Zickengetue unter Mädchen. Aber dazu hab ich ihr ja schon ein paar Takte gesagt. Oder?" Ich zog meine Schwester zurück auf den Arm, die heulte immer noch. "Erzähl mal! Was gibt es gleich für dich?"
"Du blödes-"
"Abendessen und dann?"
Minchen antwortete nicht.
"Schön!" Ich seufzte. "Du wirst es ja merken", meinte ich. "Möchtest du dich mal bei Maria entschuldigen?"
"Baby doofe Ekelscheuche!", sagte Minchen. Sie grunzte, dann spuckte sie mir ins Gesicht.
Ich zog eine Grimasse. "Mhmm... lecker!" Mit der freien Hand wischte ich mir die zähe Mischung aus Spucke und Rotze von der Wange und schmierte es dann wiederum meiner Schwester ins Gesicht, noch bevor dieser überhaupt klar war, was ich vorhatte.
"Ihh Leon! Nicht schmieren!"
"Was denn?", fragte ich. "Ist doch dein Dreck."
Minchen grunzte wieder.
"Willst du noch mal spucken?"
"Will dich vollspucken!"
"Dann mach, komm!", forderte ich sie auf. "Spuck mich an!"
Minchen tat es nicht, schluckte stattdessen. Und heulte dann weiter.
"Ich will das nicht sagen!"
Ich schaute wieder zu Maria.
"Was willst du nicht sagen, Süße?"
"Wie deine Schwester mich alles genannt hat", schluchzte Maria.
"Ist doch okay", meinte ich.
"Ich hab ja auch nur gefragt", sagte Eddie.
"Ja, auch nur so tausendmal!", schrie Maria und hustete dann.
"Hast du mal ein Taschentuch für sie?", fragte ich.
"Muss ich mal gucken", antwortete Eddie, kramte etwas in seinen Taschen und gab Maria dann eins.
"Danke." Sie nahm es und wischte sich damit durchs Gesicht.
"Auch Ausschnauben!", wies ich sie an.
"Baby schnauben!"
"Fresse!", fuhr ich meine Schwester an.
"Ekel-" Weiter kam Minchen nicht, da packte ich sie am Kiefer.
"Du hast jetzt Sendepause!" Ich funkelte sie an.
Minchen schaute zurück. Dann senkte sie den Blick.
Maria putzte sich die Nase.
"Soll ich dich vielleicht mal zurück zur Wohngruppe bringen?", fragte Eddie sie.
"Warum solltest du das tun?", wollte ich wissen. "Maria kommt mit zu mir."
"Vielleicht will sie das ja gar nicht mehr."
"Stimmt das, Süße?"
Maria antwortete nicht.
"Komm mal her!", sagte ich und streckte meinen freien Arm nach ihr aus, daraufhin passierte wieder nichts.
"Maria!", rief ich. "Los, komm mal her zu mir!"
Endlich kam sie.
"Stimmt das, was Eddie sagt?", wiederholte ich meine Frage, legte einen Arm um sie und strich ihr über den Rücken. "Möchtest du jetzt schon nach Hause?"
Ich schaute sie an. Maria wich meinem Blick aus. Und zuckte die Schultern.
"Ja, keine Ahnung... wenn Jasmin jetzt die ganze Zeit so sauer ist..."
"Dann ist das ihr Problem", meinte ich. "Wir machen es uns trotzdem schön." Ich küsste sie. "Und später bring ich dich dann nach Hause."
"Ich kann auch alleine gehen."
"Das wirst du aber nicht."
"Baby nicht-"
"Fresse!", unterbrach ich meine Schwester erneut, griff ihr dabei abermals ins Gesicht. Und senkte die Stimme. "Irgendwann ist es auch mal gut gewesen, Jasmin!"
"Lass mich runter!"
"Dann gehst du an meiner Hand."
"Ich will nicht an-"
"Doch!", bestimmte ich. "Bis wir wieder Zuhause sind!" Ich wandte mich an Eddie. "Du kannst auch ruhig noch eben mitkommen. Dann geb ich dir was aus, fürs Retten gerade."
Eddie zog die Brauen zusammen.
"Überlegs dir!", sagte ich und ließ meine Schwester herunter, die hatte das Schimpfen und Kämpfen nun endlich aufgegeben - zumindest fürs erste.

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Where stories live. Discover now