24. Uns fehlt noch jemand

4 2 0
                                    

°○ Eduard ○°

Heute war ich glücklich.
Warum, verstand ich selber nicht. Vielleicht war ich ja verrückt geworden. Oder es war ganz einfach so, dass die Ferien mir zu lang gewesen waren, dass ich es nicht mehr ertragen konnte, jeden Tag für mich allein in meinem Zimmer zu hocken und Netflix zu gucken, oder in irgendwelchen Büchern zu lesen; keine Ahnung, woran es lag, aber irgendwie freute ich mich auf die Schule, auch wenn das bedeutete, nun wieder jeden Tag Prügel kassieren zu können, je nach dem, in welcher Laune Leon war. Wenn es darum ging, anderen Leute Schmerzen zu bereiten, konnte er ziemlich kreativ sein, wobei ansonsten ja eher wenig bis gar nichts an Intelligenz von ihm zu erwarten war, überlegte ich und musterte Leon, Ali und Mehmet von meinem Platz bei der Hintertür aus, wie sie zusammen vorne im Vierer saßen und sich eine große Flasche Cola teilten.
Wer weiß, vielleicht würde heute ja mal alles entspannt bleiben. Bis jetzt hatte immerhin noch niemand - weder Leon, noch einer von seinen möchtegern-coolen Freunden - mich überhaupt eines Blickes gewürdigt.
Ja, vielleicht würde es heute mal ganz gut werden, überlegte ich und hielt mich noch etwas stärker an der Stange fest, als der Bus um eine scharfe Kurve bog, was einen kleinen Jungen mit einem sichtlich schweren Rucksack auf dem Rücken jäh aus dem Gleichgewicht brachte und gegen mich knallen ließ.
"Tut mir leid!"
Ich ignorierte ihn, sah stattdessen aus dem Fenster, wo der Himmel von der aufgehenden Sonne in ein kühles Rosa gefärbt wurde.
Die Tage wurden jetzt wieder länger. Das war vermutlich auch ein Grund dafür, dass es mir jetzt besser ging, als noch vor ein paar Wochen, an denen ich stets morgens im Dunkeln hatte zur Schule gehen müssen, nur um wenige Stunden später unter einer bereits wieder untergehenden Sonne vom Training zurück nach Hause zu gehen.
Vielleicht würde ich heute Abend noch einen Spaziergang machen, und diesmal dann gleich eine große Runde drehen, vom Amselweg aus durch die schmale Topen-Gaspar-Straße, dann die Elmssiedlung hindurch bis in den Wald hinein. Und dann (Richtung  Norden zum See hinaus) wieder zurück nach Hause.
Ob Maria wohl Lust hatte, mitzukommen?
Ich sollte sie fragen, dachte ich und kramte mein Handy aus der Tasche meines Mantels.
Konnte ja gut sein, dass wir es heute mal schaffen würden, nicht zu streiten. Dazu müsste ich lediglich darauf achten, nichts über Leon zu sagen. Auch, wenn sie ihn zum Thema machte. Und das tat sie jedes Mal. Immer in so Nebensätzen.
Weil Leon das so meinte.
Als Leon das dann wollte.
Da könnte ich sie schütteln! Gegen die Wand drücken und anschreien.
Aber ich durfte mich nicht mehr länger darüber aufregen.
Was würde mir das bringen?
Dadurch würde ich Maria nur noch weiter in Leons Arme treiben.

EDUARD
Hallo Maria,
Wie geht-

Nein.
Das war eine dumme Frage.
Wie sollte es Maria schon gehen, wo ihr Vater vor gerade mal zwei Wochen gestorben war? Wo er sich umgebracht hatte?
Wahrscheinlich lag sie gerade in ihrem Bett, die Jalosien herunter und die Decke über den Kopf gezogen, während sie sich vor lauter Verzweiflung die Augen aus dem Kopf weinte.
So erging es einem, wenn man trauerte. Wenn man jemanden (Ranja) vermisste, der (durchs Eis gebrochen) für immer verschwunden  war.
Ich wusste genau was für ein Gefühl das war. Wie schrecklich leer man sich vorkam und gleichzeitig völlig überwältigt vor Schmerz.

EDUARD
Hallo Maria,
Wollen wir heute spazieren gehen?
Liebe Grüße,
Eduard

So klang das schon besser, dachte ich zufrieden.
Kurz und gut.
So musste sie nur noch zusagen und dann würden wir es uns heute schön machen. Würden lange durch den Wald spazieren gehen und vorher könnten wir uns ja vielleicht noch etwas leckeres aus dem Kiosk holen.
Oder uns ins niedliche Café an der Ecke Bahnhofstraße Amselweg setzen und Kuchen essen. Aber darauf würde Maria sich-
Der Bus bremste, mit einem so starken Ruck, dass es mich bestimmt von den Füßen gerissen hätte, wäre da nicht die Stange gewesen und meine linke Hand, welche wie von selber danach griff.
"Glück gehabt!" Leons Stimme hinter mir.
Ich wandte mich zu ihm um.
"Wäre aber auch witzig gewesen, wenn du dich hingelegt hättest."
"Ja, da hättest du was zum Lachen gehabt", sagte ich.
"Vielleicht kommt da ja noch was." Leon grinste, dann packte er mich am Handgelenk, ganz plötzlich und mit einer Heftigkeit, die mir wie stechende Nadeln durch die Knochen fuhr.
"Was soll das? Lass mich los, du Arschloch!", rief ich und versuchte mich mit aller Kraft wieder loszureißen, doch daraufhin wurden die Schmerzen nur noch schlimmer. "Willst du mir den Arm brechen?"
Leon antwortete nicht, zog mich stattdessen mit sich durch die Tür nach draußen.
Ein eisiger Windstoß blies mir ins Gesicht, gepaart mit einzelnen kleinen Regentropfen.
"Scheiße, was willst du denn von mir?"
"Das solltest du doch wissen, du Ratte!"
"Ich weiß gar- Hey! Nein! Gib mir das wieder!", schrie ich, als Leon mir mein Handy aus der Hand riss und versuchte es mir wieder zurück zu holen, was abermals mit einem fiesen Stechen in meinem Arm einherging. "Gib mir mein Handy wieder!"
"An deiner Stelle würde ich jetzt ja lieber mal die Klappe halten", meinte Ali. "Vielleicht bricht Leon dir sonst gleich wirklich noch den Arm." Ein belustigtes Grinsen in seiner Stimme.
"Lass mal in die Raucherecke gehen", schlug Mehmet vor.
"Nee, da sind jetzt zu viele Leute", entgegnete Leon.
"Was willst du denn-"
"Leon?" Marias Stimme. "Was hast du jetzt schon wieder vor?"
"Nichts." Leon lachte. "Was soll ich vorhaben?" Sein Arm legte sich um meine Schultern. "Wir haben hier nur gerade was zu klären."
"Ist es wegen den Fotos?"
"Warte am besten mal vor der Aula auf mich, Süße, dann-"
"Tu ihm nicht weh!"
"-bring ich dich gleich zu deiner Klasse."
"Bitte! Ich wollt dich nicht wütend machen!"
"Hast du ja auch nicht."
"Ich wollt nur wissen, was das mit dem Auto war, deswegen hab ich dir auch nur davon erzählt", sprudelt es weiter aus Maria heraus.
"Red doch keine Scheiße!" Jetzt klang Leon genervt. "Du hast mir von den Fotos erzählt, weil unser Kumpel hier dir gesagt hat, dass ich das war."
"Nein, das-"
"Und du hast ihm das geglaubt."
"Nein, ich... dachte nur... Hätte ja sein können, dass du da was zu weißt."
"Ja, klar!"
"Bitte Leon! Lass Eddie da doch-"
"Ich hab jetzt keine Zeit für Diskussionen, Süße, tut mir Leid", fiel Leon ihr wieder ins Wort. "Lass uns das mal auf später verschieben, ja?" Er gab ihr einen Kuss. "Bis gleich!"
Sie brachten mich zur Jungstoilette, die war menschenleer, abgesehen von einem Jungen aus der achten, der war ziemlich groß und dünn, trug kurze rote Haare und dazu eine schwarzgerahmte Brille mit runden Gläsern.
Ich wusste nicht, wie sein Name war, kannte ihn aber vom Sehen in der Bibliothek. Nun stand er hier mit  herunter gelassener Hose, die Augen vor Schrecken geweitet, als er erkannte, wer da alles den Raum betrat.
"Verzieh dich!", knurrte Leon, mein Handgelenk immer noch fest im Griff. 
Er nickte zur Tür. "Wird's bald?"
"Ja... tut mir leid... ich... darf ich mir vielleicht noch die Hände waschen?"
"Du darfst die Hände gleich ins Klo stecken, wenn du nicht zusiehst", erwiderte Leon, daraufhin verschwand der Achtklässler ohne ein weiteres Wort.
"Was ist das jetzt mit den Fotos?"
"Keine Ahnung", sagte ich und knallte im nächsten Moment mit dem Hinterkopf gegen die harte Fliesenwand. "Welche Fotos meinst du denn?"
"Du weißt verfickt noch mal ganz genau, welche Fotos ich meine!", meinte Leon und schlug mir ins Gesicht. Dann zog er mein Handy aus der Tasche seines Mantels, öffnete das Display und sah dann wieder zu mir.
"Pin-Nummer?"
Ich antwortete nicht, daraufhin verpasste Leon mir einen harten Tritt in den Bauch.
"Wie ist deine Pin-Nummer?"
Ich ließ ein ersticktes Keuchen hören, die Hände fest auf meinen Bauch gepresst.
Leon packte mich an den Haaren und zerrte mich wieder zu ihm hoch. "Ich frag dich nicht nochmal!"
"Eins...drei, null, acht", japste ich. Ranjas Geburtstag, fügte ich in Gedanken noch hinzu, sagte es jedoch nicht.
Doch Leon begriff es trotzdem, das konnte ich in seinen Augen sehen, erkannte es auch an der Art, wie er sich kurz darauf von mir abwandte, als könnte er es nicht ertragen, meinen Blick noch länger festzuhalten.
Er entsperrte mein Display, schien einen Moment lang etwas zu suchen, dann lachte er.
"Ist ja drollig!"
"Kann man dich darauf erkennen?", fragte Ali.
"Nein", antwortete Leon, hörbar darum bemüht, angesichts dieser letzten Frage nicht laut loszubrüllen. "Warum sollte man auch?"
Ich gluckste.
Leons Blick zuckte zurück in meine Richtung. "Was gibt's da jetzt zu Lachen?"
"Nichts", sagte ich schnell. "Tut mir-"
Ein weiterer Schlag mit der Faust. Diesmal traf sie meine Nase, zum Glück hatte ich es aber rechtzeitig kommen sehen und den Kopf etwas abgewandt, ansonsten würde sie nun wohl nicht nur bluten, sondern wäre auch gebrochen.
"Wenn ich gewollt hätte, wär die jetzt gebrochen", meinte Leon, als hätte er meinen Gedanken gehört. "Wenn ich will, kann ich dir jeden einzelnen deiner gammeligen Knochen brechen." Sein Gesichts nur wenige Zentimeter von meinem entfernt. "Glaubst du mir das?"
Ich nickte.

Vogelscheuche und Gürtelschnalle - Teil 2Where stories live. Discover now