Einundfünfzig

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Der Wagen verlangsamte, das Mehrfamilienhaus, das eher StudentInnen galt als Familien, da in diesen doch recht kleinen Apartments vermutlich keine mehrköpfige Familie leben könnte, rückte näher. Schließlich stoppte Juna und ihr Auto stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite halb auf dem Gehweg. Die Box voller Unterlagen stand hinter Hanna auf der Rückbank, doch sie stieg noch nicht aus, um sie zu holen. Sie blieb sitzen, wollte sich vergewissern, dass der Moment real war und nicht wieder irgendein Traum, von dem sie im Nachhinein nur wieder verletzt wurde.

"Danke, dass du mich heimgefahren hast. Das ist wirklich nicht selbstverständlich." Sie sahen sich nun an, wieder sprachen ihre Blicke Bände. Hanna wollte noch so vieles sagen, ihr einiges mitteilen, doch Worte konnten nicht ausdrücken, was sie fühlte. Natürlich, sie war vor allem dankbar und zufrieden in diesem Augenblick, in dem sie auf Junas Beifahrersitz saß, während Juna sich weniger als eine Armlänge entfernt links neben ihr befand. "Hab ich wirklich gern gemacht.", antwortete sie und ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Auf einmal fragte sich Hanna, ob Juna nicht oft in ihrer Gegenwart glücklich aussah. Oder war das auch lediglich ein Produkt ihrer Phantasie, das sie in die Irre zu führen versuchte? Doch Hanna wollte dem Gedanken trotzen, sich selbst vom Gegenteil überzeugen und lächelte ebenfalls. Unsicher, was sie jetzt noch tun sollte - Juna umarmen, einfach mit einem Abschiedswort die Tür öffnen und mit der Box im Haus verschwinden - entschied sie sich für etwas ganz anderes. Ja, es war nicht die angenehme Variante, vor allem nicht die leichte. Aber es war das, was sich richtig anfühlte und am Ende des Tages wohl auch das einzig wichtige war. 

"Ich hasse es, wenn man sich selbst irgendwie in Schubladen stecken muss, also definieren muss. Nur das Ding ist, dass ich das brauche, glaub ich. Zumindest was uns angeht." Hanna drehte sich noch ein weiteres Stück Juna zu. "Also, was sind wir?" Eine kurze Pause entstand. Juna hatte vermutlich kaum mit dieser Frage gerechnet und wusste scheinbar keine Antwort darauf. Jedenfalls nicht spontan, also legte Hanna etwas nach. "Ich muss einfach wissen, wo ich bei dir stehe, ob das zwischen uns für dich nur eine Art Zeitvertreib ist und vor allem, wie es dann in zwei Wochen aussieht. Dann, wenn ich mein Praktikum bei dir starte." Jetzt hatte sie etwas Angst. Zum einen immer noch vor der Klinik, denn dort kannte sie niemanden und niemand kannte sie. Vor allem aber, weil sie nicht wollte, dass Juna sie dann anders behandeln würde als die anderen, egal ob besser oder schlechter. 

"Ich will ganz ehrlich mit dir sein, denn nein, das ganze ist kein einfacher Zeitvertreib für mich. Allerdings kann ich dir, glaube ich, einfach noch nicht richtig sagen, was du hören willst, weil ich mir selbst nicht sicher bin." Juna stockte nun auch für einen Moment. Sie legte ihre Hand in Hannas und sah wieder zurück in deren Augen. In einem warmherzigen, jedoch ernsten Ton fügte sie noch etwas hinzu. "Egal, ob ich mir über das große Ganze mit dir sicher bin oder nicht, eines weiß ich ganz bestimmt:", sie ließ ihre Hand los und legte sie dann auf Hannas Wange. "Ich mag dich jetzt schon viel zu sehr, als dass ich dich einfach so vergessen könnte." Juna hatte die letzten Worte geflüstert, Hanna bekam Gänsehaut. Wieder konnte sie das Meerblau vor sich sehen, von dessen Farben sie wohl niemals genug bekommen würde. Zwischen ihren Gesichtern waren vielleicht noch ein paar Fingerbreit Abstand, doch Juna überwand den Spalt selbstbewusst. Zwar war das nun nicht mehr ihr erster Kuss, doch für Hanna fühlte es sich keineswegs langweilig oder auch nur im Ansatz nicht so aufregend an wie gestern, als sie in ihrer Wohnung zum ersten Mal diesen Schritt gewagt hatten. "Find ich gut, dass es dir ernst ist. Mir nämlich auch." Hanna grinste Juna an, bevor sie den Gurt löste und dem Augenblick sein Ende setzte, bevor sie sich verabschiedete. "Danke nochmal fürs Fahren, mach's gut!" 

Und ein paar Minuten später stand Hanna in ihrem Apartment, den Karton in der Hand, und schloss die Tür hinter sich. Einen Moment wollte sie noch verharren, während sie gedanklich den Augenblick noch einmal durchging. Es war, als wollte sie sicher gehen, dass sie nicht das kleinste Detail von gerade eben jemals vergessen würde - viel zu schön war er, der zweite Kuss.

GroßstadtfeuerWhere stories live. Discover now