Vierundfünfzig

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Zurück in der Notaufnahme, wo sie die nächsten fünf Stunden noch sein und PatientInnen helfen würde, erwartete sie schon die nächste "brenzlige Situation", wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte. Ein älterer Mann, etwa Anfang bis Mitte 60 rum, betrat den Eingang der Notaufnahme, doch anstatt sich anzumelden lief er schnurstracks gerade aus. Klar war auf den ersten Blick, dass er selbst der Patient war. Aus einem seiner Mundwinkel floss ein wenig Blut, seine rechte Hand hielt er vor seiner Brust, jedoch eher aus Gewohnheit, wenn man seine generelle Körperhaltung einmal näher betrachtete. Er torkelte immer weiter, einen dritten, vierten und schließlich einen fünften Schritt, bevor er auf dem Boden zusammenbrach. Innere Blutungen oder Schlaganfall, dachte Hanna. "Trage!", schrie sie in einem Ton, der es völlig selbstverständlich wirken ließ, dass sie die Befehle gab und irgendeine Schwester oder ein Pfleger ihr zu Hilfe kam. Langsam, aber mit gekonnten Griffen sicherten sie den Mann auf dem Plastikbrett, bevor ihn zwei der stärkeren Jungs aus dem Pflegepersonal in ein freies Bett legten, wo bereits ein paar OberärztInnen und einige AssitenzärztInnen auf einen spannenden Fall warteten. Und genau dort, wo deren Arbeit begann, dort hörte Hannas nun auf. Sie musste sich davon abhalten, sich daneben zu stellen, einer von ihnen sein zu wollen, doch sie hatte nicht ansatzweise den gleichen Wissensstand wie all die studierten MedizinerInnen. Aber in den drei Monaten würde das wohl so bleiben, was sollte sich daran auch bitte groß ändern können?  

Hanna wusch sich ein aller letztes Mal die Hände, gähnte ihr Spiegelbild an und schloss anschließend den Spind links neben dem Waschbecken der Umkleide. Ein anstrengender, allererster Tag in der Klinik ging für sie zu Ende und ehrlich gesagt freute sie sich gerade auf nichts mehr als ihr kuschlig weiches, warmes und gemütliches Bett, bevor morgen ein neuer, aufregender und unglaublich kräftezehrender Tag auf sie warten würde.

Sie schloss die Tür mit der Schlüsselkarte, die sie kurz danach wieder bei Schwester Elena abgab. Heute morgen hatte sie eine kurze Einführung bekommen und die wichtigsten Namen gelernt, damit sie es nicht in den nächsten Tagen nachholen müsste und es ihr zum Verhängnis werden könnte. Wie so oft hatte Hanna auch diesen Tag detailliert geplant und ausnahmsweise mal war es auch wirklich fast so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Voll und ganz in Gedanken den heutigen Tag reflektierend, schreckte Hanna kurz auf, als ihr Handy vibrierte. Normalerweise hatte sie es auf stumm, egal wo und wann. Doch in der Klinik wollte sie erreichbar sein, wieso auch immer. So hatte sie sich heute morgen dazu entschieden, das Teil auf Vibration zu stellen. Lustlos und ausgelaugt zog sie ihr Telefon aus ihrer hinteren Jeanstasche und gähnte erneut, bis sie auf den Display sah.

"Hey, tut mir leid für die späte Störung an deinem Feierabend. Wollte mich mal erkundigen, ob sich die neue Star-Praktikantin unserer Klinik auf ein Abendessen mit...", Hanna schleppte sich mit einem unterdrückten Grinsen aus der Notaufnahme raus bis zur Bank auf dem Asphalt, wenige Meter vom Eingang entfernt. Sie wollte keinesfalls heute schon jeden wissen lassen, dass zwischen Juna und ihr was lief und vor allem nicht wie bestellt und nicht abgeholt unter der Tür rumlungern, die für halbtote Menschen in Not gedacht war, denen man helfen musste. So saß sie kurzerhand auf den kalten Metallstreben der Bank und laß ungestört weiter. "ein Abendessen mit Fr. Dr. prof. Vinzlorak einlassen würde." Hanna schmunzelte. Irgendwie halb genervt von Junas Schreibstil gerade eben war sie aber hauptsächlich glücklich. Eigentlich wollte sie sich gerade davon abhalten, doch schließlich tat sie es doch. Vielleicht war es Zeit, nicht immer nur auf Sicherheit zu gehen, sich darum zu sorgen, was andere denken könnten, denn wie sollte Hanna dann richtig leben? 

Sie hörte die typischen Wartetöne, die man in einem Telefonat hören konnte, bevor die andere Seite der Leitung abgenommen wurde. Und dann hörte sie wieder ihre Stimme, musste sich dabei ertappen, wie ihr Herz einen kleinen Hüpfer machte. "Hi. Wie gehts dir?", fragte sie. "Hey,", Juna klang offensichtlich müde, trotzdem schaffte sie es, einen herzlichen Ton rüberzubringen. "Ich würde sehr gerne mit dir Essen gehen, Juna. Das nächste Mal kannst du mich gerne persönlich fragen, okay?" Hanna hatte schon Sorge, sie klang zu eingeschnappt, doch Juna nahm ihr ihre Zweifel sofort. "Klar, mach ich. Hatte wohl ein bisschen Angst, dich das gleich so aus dem nichts zu fragen.", gab sie zu. "Niemals könnte ich da nein sagen, glaub mir." Wieder glaubte sie Juna lächeln zu hören. "Wie lange bleibst du noch?", fragte sie nach einer kurzen Pause. "Eigentlich könnte ich jetzt schon gehen, aber dann muss ich den Rest morgen machen.", Juna seufzte. Dann änderte sich etwas in ihrer Stimme. "Wieso fragst du denn?" Hanna grinste erneut. "Würde ja gerne neben dir morgen aufwachen." Sofort schob sie noch etwas hinterher. "Aber natürlich gar kein Problem, wenn du nicht kannst. Ich will dich da auch in nichts reinstürzen oder sowas, also du kannst natürlich auch nein sagen, ist gar kein Ding." Sie wollte noch mehr sagen, die Worte sprudelten fast aus ihr raus. "Gib mir fünf Minuten.", hörte sie Junas Stimme noch. Und dann war es wieder ruhig. Sie hörte die leisen, federleichten Regentropfen auf den Asphalt prasseln, genoss den kalten Sommerregen-Geruch an diesem Montagabend, bevor sie sich auf den Weg zum Parkplatz machte. 

GroßstadtfeuerWhere stories live. Discover now