Siebzig

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Hanna suchte noch ihre Klamotten zusammen, während Juna bereits fertig angezogen vor der Tür stand. "Sollen wir da jetzt einfach beide gleichzeitig raus gehen? Also, ich mein, das ist schon ein bisschen auffällig, oder?", fragte Hanna dann. Junas Blick war auf ihr Handy gerichtet, sie schien irgendetwas zu lesen. Doch auch nach ein paar Sekunden Warten reagierte Juna nicht. "Juna?"

Dann sah Juna von ihrem Telefon hoch, ihr Blick veränderte sich schlagartig und sie lächelte. Doch Hanna kaufte ihr das irgendwie nicht ab, denn etwas gab ihr das Gefühl, dass dieses Lachen nicht echt war. "Ich muss schonmal raus und in den OP. Aber wenn du noch ein paar Minuten warten könntest, damit du nicht direkt hinter mir rausgehst, das wär super.", erklärte sie, ohne Hanna richtig anzusehen. Ihr Blick war überall, nur nicht bei Hanna, und auch ihre Stimmlage lies Hanna vor Kälte schaudern. Es klang, als hätte sie eine unglaublich unsympathische Stimme aufgesetzt, die nicht ansatzweise so klang, wie Hanna Juna bisher gekannt hatte. Doch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Juna das Bereitschaftszimmer schon verlassen -  wie immer, wenn sie Hanna zurückließ, schaute sie ihr noch einen Augenblick nach. 

Vor wenigen Minuten waren sie eng aneinander gekuschelt im Bett gelegen, einerseits völlig erschöpft und andererseits einfach glücklich, unbeschwert. Und jetzt? Jetzt hatte Junas Herz sich zu einem einzigen Eisklumpen verwandelt. Hanna war verletzt, aber vor allem extrem verwirrt. Immerhin hatte Juna sich doch wohlgefühlt vorhin, oder? Sie hatte es ja auch gewollt, darin bestand kein Zweifel, denn wieso sonst war sie den ersten Schritt gegangen?

Hanna wartete noch 2, vielleicht auch 3 Minuten, bevor auch sie wieder zurück in die Notaufnahme ging und ihr schmerzender Kopf noch flott eine Ausrede parat haben musste, falls sie gefragt wurde, wo sie gewesen war. Doch als Hanna in der Notaufnahme ankam, gerade vorbei am Tresen zur Eingangstür sehen konnte, überschlugen sich ihre Gedanken.

Juna stand da, neben einer Trage, die gerade von ein paar Rettungssanitätern durch die Eingangstür geschoben wurde, und hielt jemandes Hand. Hanna blieb stehen, um sich die Situation genauer anzusehen. Es war die Hand eines Mannes, dessen Worte Hanna ein Messer ins Herz stießen. "Danke, mein Schatz, ich liebe dich." An seinem Finger steckte ein Ehering und Hanna konnte schwören das Gesicht des Mannes schon einmal gesehen zu haben.


Ob und was Juna antwortete, konnte Hanna nicht mehr hören, denn als sie sich endlich aus ihrer angewurzelten Haltung befreit hatte, wusste sie nicht viel. Sie wusste nur, dass sie hier weg musste und das schnell.

Glücklicherweise stand Emma gerade ganz in der Nähe und schien, abgesehen von ein paar Dokumenten, nicht viel um die Ohren zu haben. Hanna legte sich ein paar Worte zurecht und merkte immer wieder, dass sie nicht voll und ganz "da" war. Ihr Hinterkopf wusste gar nichts mehr, doch ausnahmsweise war Hanna einmal recht froh darüber, ein Overthinker zu sein, denn das lenkte sie erst einmal von Schmerzen ab. "Hey, Emma. Hast du vielleicht eine Minute?", fragte sie und tat wirklich alles, um dabei einigermaßen normal zu klingen. "Hanna, da bist du ja wieder." Emma legte den Ordner neben sich auf einen der Notfallwagen und steckte ihren Kuli wieder in ihre Brusttasche zurück. "Hab schon gehört, dass du mit der Chefin reden musstest. Alles gut bei dir?" Hanna konnte nicht anders als leise zu seufzen, als Emma von "der Chefin" sprach. "Oh, das war nur noch ein kurzes Gespräch, das wir eigentlich am ersten Tag meines Praktikums schon hätten machen sollen. Alles gut soweit." Hanna stockte kurz, sie wusste nicht, was genau sie jetzt sagen sollte. Aber eigentlich wusste sie gerade im Moment sowieso gar nichts mehr. "Ist es vielleicht..." Hanna stoppte sich. Wollte sie jetzt wirklich ihre Kolleginnen hängen lassen, nur weil Juna und sie - falls das überhaupt noch existierte - Probleme hatten? Und das jetzt, wo sie auch noch komplett unterbesetzt waren? Hanna konnte und wollte ganz einfach nicht ihre Probleme zu denen anderer werden lassen und beschloss, sich zusammen zu reißen, heute Nacht also wie geplant hier zu bleiben. Emma jedoch sah sie noch etwas erwartungsvoll an. "Ist es vielleicht?", wiederholte sie Hannas vorherige Worte und erhoffte sich wohl eine Antwort. "Oh, entschuldige. Passt schon, danke, Emma!", antwortete sie noch kurz und behielt das aufgesetzte Lächeln noch ein paar Sekunden auf, bevor sie sich wieder ihren Ängsten widmen konnte.

GroßstadtfeuerWhere stories live. Discover now