Kapitel 4

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Fynn

Grelles Neonlicht spiegelt sich in Daniels Augen, als er sich vorbeugt, um der heissen Blondine einen Drink zu spendieren. Innerhalb einiger Minuten hatte er sich seine Beute ausgesucht und mit seinen Charmen umwickelt.

Mir will das heute nicht wirklich gelingen. Ich bin schon zu dicht, um ein charmantes Lächeln aufzusetzen und mich an irgendjemanden ranzumachen.

„Ey Fynn, gib mal Kohle! Ich brauch zwei Sex on the Beach", raunt Daniel mir im Vorbeigehen zu und greift ohne meine Bestätigung abzuwarten, nach meiner Kreditkarte, die sich in der Jackentasche meiner Lederjacke befindet. Ich zucke nur mit den Schultern und widme mich wieder meinem eigenen Getränk zu. Mir entgeht Ryans ernster Blick nicht, doch ich versuche ihn zu ignorieren.
Mein bester Freund kann es nicht leiden, wenn mein anderer bester Freund sich auf meine Kosten amüsiert. Oder besser gesagt, auf die Kosten meiner Eltern.
„Du solltest ihm echt nich' immer alles bezahlen, Mann", mault er und nimmt einen bescheidenen Schluck aus seiner Bierflasche.

Ryan hasst die Disco und manchmal frag ich mich echt, warum er überhaupt mit mir befreundet ist.
Das einzige Gemeinsame,was wir haben, ist unsere Begeisterung für jegliche Art von Graffiti.

Im Gegensatz zu mir wirkt Ryan mit seinen blonden, schulterlangen Haaren und den blauen Augen wie ein seriöser Geschäftsmann, was gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt ist. Ryan arbeitet auf einer Bank und liebt seinen Beruf. An den Wochenenden geht er mit seinem Freund Joshua Klettern oder Schwimmen oder zieht mit mir um die Häuser, um zu sprayen.
Erst neulich haben wir in einem umfunktionierten Fabrikgebäude in der Nähe leere Lagerhallen gefunden, die eine perfekte Leinwand für unsere Kunst bieten.

Ich kenne Ryan jetzt schon seit der Grundschule und kann mir gar nicht vorstellen, wie es ohne ihn wäre.

Er ist mein bester Freund.

Meine einzige Bezugsperson.

Daniel ist eher der Draufgängertyp. Ryan und ich haben ihm vor zwei Jahren an einer Party aus der Patsche geholfen, weil er sturzbetrunken war und vergessen hatte, wo er seinen Wagen geparkt hat. Später hat sich herausgestellt, dass er mit der U-Bahn gekommen war.

Ryan und ich haben ihn am Wegrand aufgegabelt und nach Hause gefahren. Als Dank hat er uns eine Woche später einen Drink spendiert und weicht seither nicht mehr von unserer Seite. Jedenfalls nicht, wenn wir feiern gehen.

Ryan ist immer noch der Meinung, dass Daniel schlicht und einfach hinter meinem ... dem Geld meiner Eltern her ist. Ich denke aber, dass er einfach ein guter Freund ist. Und wenn Ryans Anmutungen zutreffen, dann ist es immer noch das Geld meiner Alten.

„Ich gehe... Joshis Nachtschicht ist bald zu Ende und ich hab versprochen ihn abzuholen", erklärt Ryan und schiebt die noch beinahe volle Bierflasche in meine Richtung. Ryan ist kein grosser Fan von Alkohol und trotzdem bestellt er sich jedes Mal ein Bier, wenn wir in der Disco sind. Als ich ihn einmal darauf angesprochen habe, warum er immer Geld ausgibt für ein Getränk, dass er im Endeffekt gar nicht trinkt, meinte er trocken, dass er sonst nicht wüsste, wohin mit seinen Händen.

Dankbar greife ich nach Ryans Flasche und leere sie in einigen Zügen. Zufrieden stelle ich fest, dass sich ein altbekanntes Gefühl in mir breit macht und mein Körper sich allmählich entspannt.

Ryan schüttelt den Kopf und wirft mir einen tadelnden Blick zu. Ich weiss, dass er sich Sorgen macht. Um mich. Mein ungesundes Verhältnis zu Alkohol und um meine Zukunft, die im Moment ziemlich verschwommen aussieht.

„Bleib auch nicht mehr zu lange, Alter. Du hattest einen schweren Tag und musst morgen früh wieder ins Museum", raunt mir Ryan zu, während er seine Jacke anzieht und sich vom Barhocker erhebt.

„Klar Mom, soll ich danach auch mein Zimmer aufräumen?", grummle ich nur sarkastisch, doch Ryan scheint heute nicht für dumme Sprüche zu haben sein. Ich will erneut nach der Bierflasche greifen, doch mein bester Freund hält mich davon ab. Seine Hand umklammert mein Handgelenkt und er lässt erst los, als ich ihm in die Augen schaue.

„Ich mein' es ernst, klar? Du siehst scheisse aus... und du brauchst dringend Schlaf. Tu mir den Gefallen und geh jetzt auch nach Hause", erklärt er und die Falte zwischen seinen Augenbrauen erscheint, wie jedes Mal wenn Ryan besorgt oder nachdenklich ist.

„Ich bleib nicht mehr lange, versprochen", murmle ich und senke den Blick wieder, damit Ryan nicht sieht, dass ich ihn gerade anlüge.

Ich kann nicht nach Hause. Ich will nicht alleine sein. Alleine mit meinen Gedanken.

Ich denke, Ryan merkt, dass ich lüge. Trotzdem nickt er und schenkt mir zum Abschied ein aufmunterndes Lächeln.

„Ruf mich morgen an!", meint er noch, ehe er sich seinen Weg durch die tanzende Menschenmenge bahnt und durch den Ausgang verschwindet.

~

Ich weiss, dass ich schon zu voll bin, um mich jetzt noch an irgendjemanden ranzumachen. In meinem Kopf dreht sich alles und vor meinen Augen ebenfalls. Der laute Beat der Musik hallt in meinem Schädel wieder und übertönt all meine Gedanken.
Daniel ist schon längst mit der Blondine in den Toiletten verschwunden und ich hatte so die Vermutung, dass ich meinen Kumpel heute nicht mehr zu Gesicht bekommen würde.

Ich habe keine Ahnung wie spät... oder besser gesagt früh es inzwischen ist, aber als ich den Club verlasse, empfangen mich draussen bereits die ersten Sonnenstrahlen. Es hat keinen Sinn, jetzt noch nach Hause zu gehen und ich schleppe mich mühsam über den Parkplatz zu den öffentlichen Toiletten, die dort in der Nähe stehen.

Ich torkle in die erst beste Kabine, knalle die Tür hinter mir zu und kotze mir die Seele aus dem Leib, während ich mich fühle wie der grösste Versager der Welt. Wieder einmal hätte ich auf Ryan hören und einfach nach Hause gehen sollen. Aber ich hatte es natürlich nicht gemacht. Weil ich Angst hatte. So verdammte Angst vor meinen eigenen Gedanke.

Davor alleine zu sein.

Und dabei fühle ich mich in diesem Moment so alleine, wie noch nie zuvor in meinem beschissenen Leben.

Vom Leben gezeichnetWhere stories live. Discover now