34. Eltern

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《vor 9 Jahren》
~ Sven ~

Ich liege wach in meinem Bett, halte die Augen aber noch fest geschlossen und lausche den Geräuschen aus der Küche. Schranktüren die auf und zugemacht werden, das Klappern von Geschirr und Besteck, das Geräusch der Kaffeemaschine. Und wie in all den Jahren zuvor stelle ich mir vor, wie meine Mutter in der Küche steht und ein Frühstück vorbereitet. Wenn ich hinaus gehe, würde sie mich mit einer herzlichen Umarmung empfangen und dann zu einem liebevoll gedeckten Tisch führen. Vor meinem Teller steht eine von diesen verzierten Zahlenkerzen die sie angezündet hat, um diesen Tag gebührend zu ehren. Extra für mich hat sie mir mein Lieblings-Sandwich gemacht. Gemeinsam setzen wir uns an den Tisch und mein Vater kommt ebenfalls dazu. Mit strahlenden Gesichtern überreichen sie mir ein Geschenk.

Das ist stets der schwierigste Teil. Ich habe meine Eltern nie strahlen gesehen, nicht mal Lächeln. Ich schlinge meine Arme um mich, in dem kläglichen Versuch mich selbst zu umarmen. "Happy Birthday, Sven!", flüstere ich in die dunkle Stille des Raums, die kurz darauf vom Nachrichtensprecher aus meinem Radiowecker unterbrochen wird.

Mit einem Seufzer öffne ich meine Augen, greife nach dem Lichtschalter und dann nach meiner Brille, bereit einem neuen Tag ins Auge zu sehen. Ich strecke mich noch einmal ausgiebig bevor ich aufstehe, meine Schultern straffe und erst für meine Morgenroutine ins Bad und dann in meine Kleidung schlüpfe. Die Hand an der Türklinke atme ich noch einmal tief durch, dann mache ich mich auf den Weg in die Küche.

Wie so oft finde ich meine Mutter dort vor, die gerade ihre Tasse unter der Kaffeepadmaschine hervorzieht. Wider besseren Wissens verharre ich einige Momente im Türrahmen und warte auf eine Reaktion, nichts. "Guten Morgen", sage ich schließlich und erhalte das übliche, stumme Nicken während sie eine Flasche Whiskey aus einem der Schränke nimmt und sich einen guten Schuss davon in den Kaffee kippt. Dann schiebt sie sich, ihre Blicke sorgsam auf die Tasse in ihrer Hand gerichtet, an mir vorbei und überlässt es mir, die Flasche wieder zuzuschrauben und wegzustellen.

Den Fehler, die Flasche im Spülbecken zu entleeren, habe ich nur ein Mal gemacht. Danach gab es viel Geschrei und eine ordentliche Backpfeife, was mich total erschüttert hat, denn meine Eltern haben weder zuvor noch nach diesem Vorfall jemals ihre Hand gegen mich erhoben. Dafür hätte ich ihnen irgendwas bedeuten müssen. Damals lernte ich jedoch zwei Dinge.

Erstens, die leere Flasche wurde umgehend durch den Kauf einer vollen ersetzt und zweitens, in dem Monat reichte das Geld am Monatsende einen Tag weniger aus, was bedeutete, dass ich einen Tag länger hungern musste, bis zum nächsten Ersten.

Während ich mir ein paar Stullen schmiere, eine fürs Frühstück und zwei weitere für später als Mittagessen im Büro, lasse ich mein bisheriges Leben vor meinen Augen ablaufen. Es ist weder ein Wunder, dass ich die Ausbildung zum Steuerfachangestellten gewählt habe, noch dass ich seit fast zwei Jahren darin brilliere. Ich musste sehr früh lernen den Wert des Geldes zu verstehen und zu kalkulieren.

Als ich mit sechs in eine Ganztagsschule eingeschult wurde waren meine Eltern der Meinung, dass damit ihre Aufgabe sich um mich zu kümmern beendet war. Ich ging morgens zur Schule, bekam mittags was zu essen, hatte nachmittags Betreuung bei den Hausaufgaben und wenn ich nach der Schule wieder heim kam durfte ich auf mein Zimmer. Ich sei jetzt groß und könnte selbst dafür sorgen, dass ich rechtzeitig ins Bett käme.

Leider vergaßen meine Eltern immer wieder das Essensgeld und so wusste ich bereits im ersten Schuljahr, wieviel ich wann von ihnen bekommen musste, damit mein Mittagessen gesichert war. Nicht immer gaben sie mir genug und die Schule war schon bald nicht mehr mit Teilzahlungen einverstanden. Zu dem Zeitpunkt lernte ich von einem Penner auf der Straße, wie man sich mit dem Sammeln und der Rückgabe von Pfandflaschen etwas Geld hinzu verdienen konnte.

Mit acht wusste ich genau, wie viel Flaschen ich im Monat sammeln musste um das ganze Lunchgeld alleine zu bezahlen. Im selben Jahr lernte ich auch, mein Geld besser zu verstecken, damit meine Eltern es nicht finden und für ihre Süchte verwenden konnten.

Mit zehn lernte ich auf die harte Tour, wie wichtig gute Noten in der Schule sind, als mein bester Schulfreund aufs Gymnasium wechselte und ich auf eine Gesamtschule erneut mit Ganztagsbetreuung. Von da an hängte ich mich richtig rein und sorgte dafür, dass ich überall gute Noten bekam. Zusammen mit meiner Brille war ich schnell der Streber und Außenseiter, allerdings auch zu stoisch in der Art, wie ich ihre Mobberei über mich ergehen ließ. In der Pubertät gab es dann andere Opfer mit sexuellem Hintergrund, ein Junge der zu offensichtlich schwul und ein Mädchen das als Schlampe verschrien war, weil sie angeblich jeden ran ließ.

Ich hatte zu der Zeit bereits zwei Nebenjobs. Ich trug morgens Zeitungen und Prospekte aus und half Samstags in dem Supermarkt, in dem ich immer meine Pfandflaschen abgab, beim aufstocken der Regale. Letzterer bezahlte mich unter der Hand statt mit Geld mit abgelaufenen Lebensmitteln sowie Brot und Gemüse, dass nicht verkauft wurde und sonst in der Tonne gelandet wäre.

Im Wahlunterricht habe ich mich fürs Kochen entschieden, auch wenn ich dafür zusätzlich Geld abdrücken musste. Aber ich wusste es zu schätzen, dass ich mir dadurch am Wochenende etwas kochen konnte. Natürlich bedeutete das, dass meine Freizeit knapp bemessen war, denn neben dem Kochen musste ich anschließend alles aufräumen, die Küche sauber halten und den Müll entsorgen. Nicht selten war die Portion, die ich am Samstag für Sonntag mitgekocht hatte, am nächsten Tag verschwunden. Also musste ich auch den Sonntag in der Küche verbringen.

Mein eigener Kaffee, den ich seit einem Jahr zu trinken begonnen habe, ist fertig und meine Stullen zum Mitnehmen sicher verpackt. Ich setze mich an den kleinen Tisch in der Küche und genieße mein Frühstück, als ich die Haustür gehen höre. Mein Vater kommt erst jetzt nach Hause? Na super, das bedeutet, er war wieder spielen. Entweder hat er gewonnen und seinen Gewinn mit irgendeiner vollbusigen Blonden verprasst oder verloren und bis zum Ladenschluss versucht, sein Geld zurück zu gewinnen.

Ich schaue in sein säuerliches Gesicht als er es in die Küche steckt, kann daraus den Hergang der Nacht aber nicht ableiten, denn so schaut er mich immer an. „Oh gut, du bist noch da. Ich hab da was für dich." Für einen Moment hoffe ich, dass er sich an meinen Geburtstag erinnert und hier ist, um mir zu gratulieren, und tatsächlich überrascht er mich mit der Erkenntnis, dass er tatsächlich genau weiß, wann ich geboren wurde. Er verschwindet kurz im Wohnzimmer, ich höre ihn, wie er den dortigen Sekretär öffnet und fluchend durch die Schubladen wühlt, bis er mit einem zufriedenen Brummen findet was er sucht.

Er kommt zu mir zurück und legt einige arg zerknitterte Blätter vor mich auf den Tisch. „Gratuliere, du bist jetzt 18. Zeit, dass du dich an den aktuellen Kosten, die du verursacht beteiligst." Ich starre ihn eine volle Minute ungläubig an, bis er mit dem Zeigefinger, der aus seiner rechten Faust heraus ragt, auf die Papiere vor mir hämmert. „Wenn du weiter hier wohnen willst, musst du das unterschreiben." Ich senke meinen Blick und lese die Überschrift: 'Mietvertrag'

Gamble ✅Where stories live. Discover now