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Die Tatsache, dass ich nichts auf seine Aussage erwiderte, schien ihn zu verunsichern, denn der Typ wurde immer nervöser.

"Es tut mir leid, ich-...", diesmal war ich es, der ihm meinen Finger vor die Lippen hielt. Dazwischen befand sich zwar noch die Maske, aber ich konnte ungefähr erahnen, wo sich sein Mund befand.

"Sag jetzt erstmal einfach nichts", bat ich ihn und er nickte. Ich zog meinen Finger zurück und fuhr damit fort, ins Leere zu starren und meine Gedanken zu ordnen.

Er war in mich verliebt.

Mein Stalker war in mich verliebt.

Mein Verfolger war in mich verliebt.

Meine persönliche Hölle, die mein Leben zerstörte, war in mich verliebt.

Doch all diese Namen, die ich ihm vor kurzer Zeit noch gegeben hatte, passten nun nicht mehr.

Jetzt war er mein Beschützer.

Mein Retter.

Eine Person, der ich vertraute und die auf mich Acht gab, ohne dass ich davon wusste.

Doch am meisten überraschte mich der Fakt, dass er ein Mann war. Nicht, dass ich davon negativ abgeneigt wäre, aber ich selbst war hetero. Zumindest dachte ich das bis jetzt immer.

Leise seufzend hob ich meinen Blick und sah ihn an. Und da fiel mir plötzlich auf, dass er noch immer eine Maske trug. Ich wusste nicht einmal wie der Mann, der mich liebte, aussah.

"Darf ich dein Gesicht sehen?", fragte ich leise. Als er nichts darauf erwiderte, hob ich langsam meine Hand und legte sie an die Maske. Nach kurzem Zögern zog ich sie dann bis zu seinem Kinn herunter.

Nachdem ich das getan hatte, drehte er blitzschnell seinen Kopf zur Seite und zog sich die Basecap tiefer ins Gesicht.

"Also darf ich nicht?", fragte ich etwas enttäuscht. Warum hatte er denn nichts gesagt? Ich hätte es gelassen, wenn er es nicht gewollt hätte.

"Ich werde nicht gern erkannt", sagte er in diesem Moment. "Alle, die mein Gesicht bisher kannten, haben mich irgendwann verlassen", fuhr er fort und klang dabei so unendlich traurig, dass mein Herz sich schmerzhaft zusammenzog.

"Und wenn ich dir verspreche, dich nicht zu verlassen?", schlug ich hoffnungsvoll vor und hielt ihm dann meinen kleinen Finger hin.

Er lachte ganz leise und verschränkte unsere kleinen Finger miteinander. Ich liebte diesen Kleinen-Finger-Schwur. Bei mir war ein Versprechen nur dann ein echtes Versprechen, wenn die kleinen Finger es besiegelten.

Während ich noch darüber nachdachte, nahm er langsam seine Kappe ab und drehte sich dann zu mir. Sofort begann ich, ihn genauestens zu mustern.

Sein Haar war leicht gelockt und etwas verstrubbelt, was ihn unglaublich niedlich aussehen ließ. Seine Haut war sehr blass und bildete daher einen deutlichen Kontrast zu den dunklen Haaren.

Seine schmalen Augen waren graubraun und erinnerten mich ein wenig an die einer Katze. Auch seine Nase sah irgendwie katzenartig aus.

Mein Blick wanderte weiter zu seinen Lippen, die herzförmig und tiefrot waren. Sein ganzes Gesicht hatte keinen einzigen Makel und war einfach so perfekt, dass es mir den Atem raubte. Warum versteckte er soetwas wunderschönes hinter einer Maske?

"Du siehst aus wie Schneewittchen", stellte ich aufeinmal fest, als ich ihn erneut genau betrachtete.

"Schwarz wie Ebenholz", meine Hand fuhr durch seine Haare, "weiß wie Schnee", ich strich über seine Wange, "und rot wie Blut", ich legte einen Finger auf seine Lippen.

Er lächelte und stubste meinen Finger mit seiner Zunge an. "Hey", kicherte ich und nahm ihn zurück. Selbst sein Verhalten glich dem einer Katze.

"Ich weiß übrigens immer noch nicht wie du heißt, Schneewittchen", neckte ich ihn und sein Lächeln wurde breiter.

"Yoongi. Ich heiße Yoongi", antwortete er mir. Unglaublich. Sogar sein Name klang für mich nach einer Katze.

"Yoongi...", wiederholte ich und ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen. "Yoongi", sagte ich nochmal. Dieses Wort war so schön.

Glücklich sah ich Yoongi wieder ins Gesicht, doch fiel mein Lächeln sofort als ich die stummen Tränen entdeckte, die seine Wangen hinabliefen.

"Wieso weinst du denn jetzt?", fragte ich erschrocken. Hatte ich etwas Falsches gesagt oder getan? Er sollte nicht traurig sein. Doch plötzlich fiel mir auf, dass er immer noch lächelte. Weinte er also vor Freude?

"Es ist nur...", meinte Yoongi und wischte sich über die Augen, "es klingt so schön, wenn du meinen Namen sagst. Weil du ihn ganz normal aussprichst. Das hat schon so lange niemand mehr getan. Sonst wurde er entweder abwertend, genervt oder enttäuscht gesagt...".

Nun musste auch ich weinen. Yoongi tat mir so leid. Er konnte in seinem ganzen Leben nie Liebe erfahren. Dabei verdiente er sie doch so sehr.

Ich legte meine Arme um ihn und drückte ihn an mich. Ich wollte ihm Liebe geben. Er sollte endlich glücklich sein. Scheiß auf meine Sexualität.

Yoongi war etwas Besonderes und ich empfand ihm gegenüber so viel Zuneigung, dass es mir egal war, ob er nun ein Mann war oder sonst was. Alles was ich wollte, war, ihm Liebe zu geben.

"Ich bleibe bei dir, okay? Ich werde dich nicht verlassen und ich werde deinen Namen auch niemals abwertend sagen, denn das hast du nicht verdient. Du bist so besonders Yoongi und alle, die das nicht sehen, sind blind und herzlos!", schluchzte ich in seine Halsbeuge, während mir immer mehr Tränen über die Wangen liefen und dann auf seine Jacke tropften.

"Danke Taehyung. Ich danke dir so sehr", hörte ich ihn leise sagen und auch er schluchzte dabei.

So saßen wir hier eng umschlungen und weinten gemeinsam mit den Wolken, die noch immer ihre Tränen über die Landschaft verteilten.

Ich wusste nicht, wie lange es so blieb, aber irgendwann riss mich plötzlich der Klingelton meines Handys aus meinen Gedanken.

Völlig zerstreut löste ich mich von Yoongi und kramte das kleine Gerät aus meiner Tasche.

"Kookie" stand auf dem Display und ich schlug mir in Gedanken die Hand gegen die Stirn. Den hatte ich ja vollkommen vergessen.

Stalker | ᵗᵃᵉᵍⁱOnde histórias criam vida. Descubra agora