Der Geist der Natur

20 2 1
                                    


Abenteuer

Authors Note: Die Kurzgeschichte war für eine Ausschreibung des Themas 'Wildnis' gedacht, wurde aber nie beendet


Kristin streckte sich ausgiebig, soweit es ihr in dem kleinen Ford Fiesta möglich war. Eric und sie waren schon seit den frühen Morgenstunden unterwegs zu ihrem nächsten Lost Place: das Geisterdorf Malreaux, wie man ihn in der Szene nannte. Beinamen wie diese waren keine Seltenheit, so rankten sich um die meisten verlassenen Orte schaurige Legenden. Kristin selbst gab nicht viel darauf, denn den einzigen Geist, den sie bisher gesehen hatte, war der Geist der Natur.

„Ich glaube, wir sind gleich da", sagte Eric, „Aber wir sollten abseits parken. Ich hab echt keine Lust, vom Militär oder einer Streife erwischt zu werden."

Kristin grübelte. „Die Berichte dazu waren recht unterschiedlich. Angeblich wurden einige von Militär erwischt, andere wiederum meinten, dass ihnen dort Fußgänger entgegenkamen und das Betreten legal sei."

„Wir sollten es trotzdem nicht riskieren", mahnte er „Bisher haben wir noch nie Ärger bekommen und ich würde es gern dabei belassen."

In der Tat stellte das Besuchen von Lost Places eine rechtliche Grauzone dar - denn auch, wenn die Orte verlassen waren, so war es dennoch unbefugtes Betreten. Nicht selten wachten aufmerksame Nachbarn oder gar Security über die verwilderten Gebäude. Vor kurzem erst hatten die beiden in einer leerstehenden Fabrik einen stummen Alarm ausgelöst und konnten den Wachmännern geradeso entkommen. Die Fotos waren es jedoch wert, befand Kristin still für sich.

Eric nahm den Fuß vom Gas und ließ das Auto auf einem Parkplatz am Waldrand ausrollen. Kaum hatten sie die Türen geöffnet, da trug der Sommerwind bereits den Duft von blühenden Birken und Tannen zu ihnen. Der Gesang verschiedenster Vogelchöre drang durch die Untiefen des Waldes und die Baumkronen neigten sich im Takt des Gezwitschers hin und her, als würden sie zum Orchester der Natur tanzen.

„Ziemlich friedlich", merkte Eric beiläufig an und reichte Kristin den Rucksack aus dem Kofferraum. „Dabei sind die Gerüchte über das Dorf doch so beängstigend."

Sie nahm ihr Gepäck entgegen und überprüfte ein letztes Mal dessen Inhalt. Das Wichtigste war ihr Erste-Hilfe-Koffer, denn das Erkunden von Lost Places konnte unter Umständen recht gefährlich sein. Nicht wenige dieser Orte waren einsturzgefährdet.

„Was dachtest du denn, was uns hier erwartet? Das Tor zur Hölle?", scherzte sie. 

„Ich dachte da eher an etwas Schlichteres. Einen Geisterpförtner zum Beispiel."

„Wie bescheiden du doch bist." Sie schulterte ihren Rucksack und grinste ihm frech entgegen. „Dann lass uns mal nach deinem Geisterpförtner suchen."

Somit verließen sie die Straße und kämpften sich durch das Dickicht. Alternative Routen durch unwegsames Gelände waren für sie keine Seltenheit und gehörten zu ihrem Hobby. Sie überwanden umgestürzte Bäume und Wurzellabyrinthe, schlanke Äste peitschten ihre Körper und Nesseln streiften ihre Kleidung. Wurde das Gestrüpp zu dicht und der Weg somit unpassierbar, nahm Eric das Jagdmesser zu Hand und schnitt sich einen Weg hindurch.

Bald schon lichtete sich das Meer aus Blättern und gab die ersten grauen Mauerwerke preis. Im schützenden Dickicht lagen die Ruinen des Dorfes verborgen und warteten wie versteckter Schatz darauf, gefunden zu werden. Dabei war ‚Dorf' eine recht unpassende Bezeichnung, denn in Wahrheit handelte es sich um ein Kasernengelände, das im Jahre 1945 fluchtartig verlassen und letztlich vergessen wurde – sofern man den Berichten glauben schenken konnte. Im Netz fanden sich unzählige Gerüchte, und eines war haarsträubender als das andere.

Im Schutz der Laubschatten und Hauswände pirschte Eric voran, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Mit einem Handzeichen bedeutete er Kristin, ihm zu folgen.

Sie schloss zu ihm auf, hatte das Funkgerät bereits gezückt. „Kanal Drei?"

Er nickte. „Wie üblich. Ich gehe dann auskundschaften."

Somit verschwand er in den Schatten und ließ Kristin allein zurück, damit sie in Ruhe ihrer Fotografie nachgehen konnte. Neben ihr lag das erste Haus in Trümmern. Mit den Fingern streifte sie die kalte Steinmauer entlang. Das Gras wucherte wie wild, doch der Pfad zum Eingang wurde durch die Schritte der Besucher vor ihr geebnet. Sie hob die Kamera und verfolgte die unzähligen Efeuranken, die sich wie eine Horde hungriger Schlangen über das zerfallene Mauerwerk hermachten. Ein Dach gab es nicht mehr. Es war zusammen mit dem Fußboden des ersten Stocks und der Treppe in sich zusammengebrochen. Alles, was davon übrig blieb, waren morsche Holzplanken und Steinbrocken verschiedenster Größen, die sich zu einem Trümmerhaufen zu ihren Füßen getürmt hatten. Eine Moosdecke überzog den Schutt und hier und da gleißten Glasscherben im Sonnenlicht. Es handelte sich um die kläglichen Überreste der Fensterscheiben, durch zahllose Schuhpaare in winzige Fragmente zertreten. Kristin liebte den Kontrast zwischen grauem Stein und wuchernden Pflanzen. Es erinnerte sie daran, dass die Natur sich eines Tages zurückholt, was ihr von Menschen genommen wurde.

Mit diesem Gedanken verabschiedete Sie sich von der Ruine und Schritt auf die Straße. Der Asphalt war von tiefen Rissen durchzogen. Die Schäden des Teeres wanden sich in sämtliche Richtungen und bildeten filigranes Labyrinth. Löwenzahn und Disteln, Klee und Grashalme pressten sich durch die Spalten, begierig darauf, wieder wachsen zu dürfen. Sie sind ihrem grauen Gefängnis entkommen, in dessen Dunkelheit sie Jahrzehnte ausgeharrt hatten. Jetzt, da die Menschen verschwunden waren, falteten sie im Licht der Sonne ihre Blätter auf und blühten, wie nie zuvor.

Kristins Weg führte sie zur Dorfmitte und sie fand sich vor den Überresten eines Brunnens wieder. Der Großteil der Steine hatte sich aus der niedrigen Mauer gelöst. Lediglich die runde Architektur des Fundaments ließ erahnen, um welches Bauwerk es sich einst gehandelt hatte. Der Schacht war mit Erde verschüttet, auf der sich im Laufe der Zeit eine Grasdecke gebildet hatte, auf der Mohnblumen erblühten.

Sie schüttelte den Kopf. Dieser Anblick stand im krassen Gegensatz zu einer urbanen Legende, die besagte, dass der Brunnen der Grund für die Flucht aus dem Dorf waren. Angeblich förderte er eines Nachts Blut statt Wasser zu Tage. Diese Sage war nur eine von vielen. Man munkelte von Geistersichtungen, rätselhaften Stimmen im Wind und dass man den Verstand verliere, sollte man auch nur eine Nacht an diesem verfluchten Ort verbringen.

„So ein Unsinn", sagte sie und stiefelte zur Villa – eines der beliebtesten Fotomotive des Geisterdorfs. Graue Sockel dienten dem Torbogen als Fundament. Farnwedel warfen ihren Schatten auf die schlanken Säulen, die den Balkon trugen und dem Zahn der Zeit tapfer standhielten. Ein Meer aus hoher Weide verschluckte das Geländer der Terrasse, ließ die Sprossen nur ansatzweise erkennen. Auf dem Dach hatte sich eine Decke aus Laub niedergelegt und wandelte das Anthrazit der Ziegel in ein Gemisch aus Braun und Grün. Der Schornstein ragte hoch empor, wetteiferte mit den Baumkronen noch immer um die Höhe. Efeuwurzeln gruben sich in die Hauswände und Moos füllte die Spalten des Mauerwerks.

Über siebzig Jahre war die Villa der Witterung ausgesetzt und Kristin fragte sich, wie viele Jahrzehnte wohl noch ins Land gehen mussten, bis der Geist der Natur die Spuren der Menschen endgültig verwischte.

Düstergeschichten - AnthologieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt