Der Limbo

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Fantasy

Authors Note: Diese Kurzgeschichte war für eine Ausschreibung zum Thema 'Nichts' - und mehr ein Worldbuilding-Experiment.


Wort um Wort tippte sie ab, gewillt, eine Geschichte auf Papier zu bringen. Und Lily verwarf sie wieder, löschte Satzzeichen, Absätze und Buchstaben, bis erneut das Nichts verblieb. Ständig war sie unzufrieden in ihrem Schaffensprozess, begleitet vom Zweifel, der an ihr haftete, wie ihr eigener Schatten. Ideenfragmente schossen ihr durch den Kopf, ohne Konzept und nicht greifbar, wie imaginärer Sand, der ihr durch die Finger rann. Es war zum Verzweifeln.

So schloss sie schließlich die Augen und konzentrierte sich, kehrte zurück in ihren Gedankenpalast, um dort über den Beginn einer Geschichte zu brüten. Sie visualisierte ihren Körper inmitten einer Unendlichkeit zeitloser Dunkelheit, als würde sie sich selbst durch die Augen eines Anderen betrachten.

Ein Teppich aus Blumen begann unter ihren Füßen zu sprießen, breitete sich in irrsinnigem Tempo in sämtliche Richtungen aus. Lilien, Orchideen und Mohn in Blau und Rot und Weiß vertrieben die Schwärze bis zum Horizont und darüber hinaus. Als die Sonne sich erhob, zerfiel die Dunkelheit des Himmels zu Asche. Die Frühlingsbrise trug sie davon, vermischt mit dem intensiven Duft der Blüten. Lilys Blick folgte dem Weg des Windes. Dort in der Ferne endete das Blumenmeer an einer tiefen Klippe und sie konnte die Wellen eines Ozeans an dessen Felsen branden hören.

Ihr Interesse galt jedoch dem Kirschbaum, der einsam über der Schlucht ragte, als wolle er den Horizont überblicken. Ihr Weg führte sie über Gräser und Blüten. Halme kitzelten sie an den Füßen und allmählich mischte sich in ihrer Lunge die salzige Luft der See mit dem Honigsüß der Blumen. Ihre Finger erreichten die Baumrinde, ertasteten jede Kerbe, ehe sie sich inmitten der Baumwurzeln niederließ. Die rosafarbenen Blüten des Kirschbaums wurden auf den weiten Ozean hinausgetragen.

Still und friedlich war er gewesen, Lilys Garten Eden. Ein Ort, an dem ihr ruheloser Geist Frieden fand. Ein Ort der Zwiesprache.

„Was quält dich?" Jakes Stimme war dünn und rau, ohne Betonung. Er hatte sich neben ihr niedergelassen, war einfach aus dem Nichts erschienen. Er entsprang der Geschichte eines Fremden, doch sein Schicksal, sein Konzept und seine Brillanz hatten Lily in den Bann gezogen.

„Ich brauche eine Idee", sagte sie und legte den Kopf in den Nacken. „Ich wünschte, ich wäre so brillant, wie du es bist. Dann hätte ich bereits Unzählige."

Er lächelte und erhob sich. „An diesem Ort bin ich nur so brillant, wie du es bist."

Lily war sich unsicher, ob sie das als Kompliment auffassen sollte, aber er hatte recht. Jakes Ursprung mochte anderswo gelegen haben, doch diese Version war die Ihre.

„Was hältst du von einem Besuch im Limbo?" Er streckte ihr die Hand entgegen, die sie nach kurzem Zögern ergriff. Er, nein, sie hatte entschieden. Jake war schließlich ein Teil von ihr.

Sie schritt zur Klippe. Breite, runde Trittsteine manifestierten sich über dem Abgrund und bildeten einen Pfad zu einer geschlossenen Tür. Angst vor der Tiefe hatte sie keine, denn in dieser Welt konnte sie fliegen.

Als sie den Messingknauf berührte, erschauderte sie. Das Metall war eisig. Das war nicht in ihrem Sinne. Lily hasste Kälte.

„Du weißt, woran es liegt." Jake kommentierte ihren Gedankengang und öffnete die Tür für sie, betrat den Limbo als Erstes. Lily folgte ihm stumm in ihre Welt des Nichts. Einen Ort des Vergessens.

„Du lässt dich von deinen Zweifeln lähmen", sagte Jake und schlenderte unbedarft in die Dunkelheit. „Zu zweifeln ist menschlich, lässt dich Fehler erkennen und vermeiden." Er stoppte. „Aber nehmen sie überhand, sind sie der Tod deiner Kreativität."

Aus der Schwärze tauchten Grabsteine auf wie Bojen aus dem Wasser. Einer nach dem anderen, in den denkbar unpassendsten Formen. Von Dreiecken über Musiknoten bis hin zu Schwertern und Schilden erstreckten sie sich in nah und fern, jeder in seiner eigenen Farbe und Kontrast. Unmengen davon, die Lily nicht zu zählen vermochte.

„So viel verschwendetes Potential. So viele gestorbene Ideen, vergessene Figuren und erstickte Emotionen." Obwohl er einige Meter Distanz zwischen sich und Lily gebracht hatte, erschien er mit nur einem Schritt unmittelbar vor ihr. „Und das alles nur, weil die Zweifel dich deiner Macht berauben."

Lily überblickte die Grablandschaft. Viele Inschriften waren bereits unleserlich und die Buntheit der Steine totem Grau gewichen. Was auch immer dort begraben lag, sie hatte es längst vergessen.

„Dabei kannst du einfach aus dem Nichts eine Stadt erschaffen." Als ihm diese Worte über die Lippen kamen, bebte die Schwärze, und Hochhäuser erhoben sich aus der Finsternis, konkurrierten miteinander um die Höhe. Zwischen ihnen schuf sich ein Labyrinth aus dunklen Gassen und breiten Straßen und Nischen füllten sich mit kleinen Hütten, Mülltonnen und Straßenlaternen.

„Und sie wieder zerstören." Er schnippte mit den Fingern und die Gebäude beugten sich seinem Willen, kollabierten. Die Geräuschkulisse war ohrenbetäubend, dass ihr beinahe das Trommelfell platzte. Ein Orchester aus Betonfelsen, die aneinanderschlugen, sich biegendem Metall und zersplitterndem Glas, das erst verstummte, als sich die gesamte Stadt zu Staub gewandelt hatte und die Schwärze sie tilgte. „In dieser Welt bist du eine Göttin. Also sag mir, Lily, wer soll deine leere Leinwand des Nichts füllen, wenn nicht du? Wie lange willst du dich noch von deinen Zweifeln beherrschen lassen?" Jake blickte zu den Grabsteinen. „Überwinde sie und gib deinen Ideen Raum zu wachsen."

Er hatte recht, die Zweifel lähmten. So schritt sie zu einem Grab, dessen Inschrift und Farbe noch nicht gänzlich verblasst war. Dort ruhte das winzige Fragment einer Idee, die sie bald völlig vergessen würde. Lily fuhr die Gravur nach. „Die Geschichte von Yiradin, einer Welt voller Magie."

Als sie den kalten Stein berührte, zerstoben sämtliche Gräber und Bäume sprossen stattdessen meterhoch aus der Dunkelheit, bildeten in ihrer Gesamtheit einen riesigen Wald. Ein kleines Haus entstand auf einer Lichtung, Ziegel um Ziegel baute es sich auf, fasste Gläser in Fensterrahmen, materialisierte den Schornstein und die Tür. Der Gesang von Vogelchören drang zu ihr und der Geruch der Erde erfüllte die Luft. Lily konnte sich erinnern. Sie war schon einmal hier: Am Beginn dieser Geschichte.

Düstergeschichten - AnthologieWhere stories live. Discover now