21. Takt: Jemand wie du, pt. 5

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Leo betrachtete ratlos den Fahrplan an der Scheibe einer Bushaltestelle.

Sie hatten sich verlaufen.

»Ich glaube, die Linie fährt in die richtige Richtung«, murmelte er und versuchte, die kryptischen Zeichen zu sinnvollen Wörtern zusammenzusetzen. Dann blickte er auf den leblosen Bildschirm seines Smartphones. »Wenn sie noch fährt.«

»Die fahr'n die ganze ... N-Nacht ...«

Leo warf einen Blick über seine Schulter. Kasimir saß in einer ausgesprochen instabilen Position auf der Haltestellenbank und hatte seine Beine eng an den Körper gezogen. Seine Lippen zitterten vor Kälte und er starrte auf den Bordstein. Es überraschte Leo, dass er in diesem Zustand noch ganze Sätze formulieren konnte.

»Denk ich auch, aber wir warten hier bestimmt schon zwanzig Minuten. Vielleicht sollten wir nochmal woanders ...«

»Setz' dich hin«, unterbrach ihn Kasimir und deutete auf den Platz neben sich. Es war ihm kaum zu verübeln, dass er nach ihrer ziellosen Tour durch die Gassen der Innenstadt keine Nerven für einen weiteren Irrweg hatte. Leo ließ sich beflissen neben ihm nieder.

»Tut mir leid. Gerade jetzt, wo's dir so elend geht.«

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Kasimir leicht den Kopf senkte. Auf ihrem Weg bis zu dieser Haltestelle hatten sie mehrmals anhalten müssen, weil er vor Schwindel nicht hatte weiterlaufen können. Zwar hatte er sich noch nicht übergeben, allerdings ließ das entsprechend seiner bleichen Gesichtsfarbe nicht mehr allzu lange auf sich warten.

»Ich hab z-zu viel getrunken ... nich' du.«

»Das wäre aber nicht passiert, wenn ich nach der Show gleich zu dir gekommen wäre. Du hättest jemanden zum Reden gebraucht.«

»Is' doch egal ...«

»Nein, finde ich nicht«, meinte Leo und betrachtete die Scheinwerfer eines vereinsamten Autos, das gerade in die Nebenstraße einbog. »Ich kann verstehen, dass du dich nach dem Gespräch mit Erik mies fühlst, aber ich bin mir sicher, dass er dich nicht verletzen wollte. Er scheint ein ernstes Problem zu haben.«

Kasimir zischte leise. Sein Blick haftete an seinen Fingern.

»I-Ich bin sein Problem.«

»Quatsch. Er empfindet sehr viel für dich.«

»Woher wills' du das wissen?«

»Na ja ... ich glaube, es ist die Art, wie er mit dir spricht. Er macht sich Gedanken um dich und nimmt Rücksicht auf deine Launen.«

»Ich brauch keine Rücksich'«, erwiderte Kasimir abweisend. »Von mir aus könnte er mich a-anschreien und mir Vorwürfe machen. Aber das tut er nich' wegen seiner Scheißrücksich' ...«

Leo senkte den Blick auf seine Hände. Die flackernde Verbitterung in Kasimirs Worten ließ ein flaues Gefühl in seinem Bauch zurück. Vielleicht, weil er Eriks Verhalten nachvollziehen konnte. Und die Empfindungen kannte, die dahinterstanden.

»Ich denke, er will dich nicht mit Problemen belasten, für die er selbst keine Lösung hat.«

»Dann soll er m-mit mir eine finden. Is' das ... ist das so schwer ...?«

»Vielleicht nicht«, erwiderte Leo und musterte seine durchweichten Lederschuhe. Seine Füße begannen allmählich in der kalten Nässe zu frieren. Früher hätte er wahrscheinlich robusteres Schuhwerk getragen, auch wenn es nicht zum Rest seines Outfits gepasst hätte. »Aber manche Dinge begreift man erst, wenn es zu spät ist.«

»Es is' nich' zu spät ... wir sind ... wir können ...«

»Ihr könnt noch alles miteinander erreichen, stimmt«, vollendete Leo und schmunzelte in der Gewissheit, dass Kasimir echte und falsche Heiterkeit in diesem Stadium nicht mehr unterscheiden konnte. »Vielleicht musst du einfach ein bisschen mehr Rücksicht auf seine Rücksicht nehmen.«

All Eyes On You [2]Where stories live. Discover now