50. Takt: Inestimabile

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Leo lehnte sich von innen gegen die Haustür. Die Kälte des Heimwegs steckte ihm noch in den Füßen, der Rest seines Körpers war jedoch von einer wohligen Wärme erfüllt. Dafür sorgte sein gesteigerter Puls seit Stunden.

Er versuchte, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Wie spät mochte es sein, zehn, elf? Auf den Beinen war jedenfalls niemand mehr. Das war auch besser so, denn er wüsste nicht, wie er seinen Ausflug erklären sollte, ohne sofort mit der Wahrheit herauszuplatzen. Alles hatte sich auf so spielerische Weise gefügt, dass er sich noch nicht recht damit abfinden konnte. Ihm war wichtig gewesen, dass Kasimir seine Zurückhaltung in den letzten Wochen verstand. Stattdessen hatte er ihn mit seinem Geständnis so überfallen, dass die Stimmung zwischen ihnen ihren eigenen Regeln gefolgt war. Aber er bedauerte keines seiner Worte und auch nicht die Tatsache, dass von nun an nichts mehr zwischen ihnen sein würde, wie es einst gewesen war. Er wusste, was das bedeutete. Dass er alles umwarf, was er in den vergangenen Jahren mit den Menschen, die ihm nahestanden, aufgebaut hatte. Aber er konnte nicht anders. Und er wollte es auch nicht.

Er atmete tief durch und lehnte den Kopf gegen den Türrahmen. Ihm wurde flau beim Gedanken, dass er mit dieser Entscheidung nicht nur seinen eigenen Lebensweg, sondern auch Kasimirs komplett umschaufelte. Die Emotionen, die er ihm nach seiner Ansprache entgegengebracht hatte, waren kaum in Worte zu fassen. Er hatte so zertrümmert und gleichermaßen erlöst gewirkt, dass es zwei Tassen Glühwein gebraucht hatte, ehe sich Kasimir getraut hatte, auch ihm seine Gefühle offenzulegen. Dafür war er danach nicht mehr zu bändigen gewesen. Diese Sehnsucht, die monatelang in ihrer Distanz verschollen gewesen war, glühte noch immer auf Leos Lippen nach. Dabei hatte er bereits geglaubt, überdurchschnittlich unter der Trennung von ihm gelitten zu haben. Aber Kasimir übertraf ihn womöglich in allen Lebenslagen.

Er schmunzelte und stützte sich von der Tür ab, um ein paar Schritte in den Flur zu treten. Als er ein leichtes Rascheln aus Richtung des Wohnzimmers wahrnahm, hielt er inne. Es gab in diesem Haushalt nur eine Person, die ihre kriminelle Energie seit neunzehn Nächten auf dieselbe Art abzubauen versuchte. Mit dieser Vorahnung trat er vorsichtig durch den Türrahmen – und erwischte die Verbrecherin auf frischer Tat.

»Der Zwanzigste ist erst morgen, Mira«, sagte er und konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als sich seine kleine Schwester erschrocken zu ihm umdrehte. Das Kalendertürchen des nächsten Tages stand bereits offen.

»Was machst du hier?«, zischte sie in einer so hohen Stimmlage, dass sie Micky Maus hätte Konkurrenz machen können. »Ich dachte, du schläfst bei Karo.«

»Und ich dachte, du schläfst seit dem Sandmännchen.«

»Ich bin neun, Leo. Das gucken nur Babys.«

»Ich hab den noch mit zwölf geschaut«, sagte er und schaltete das Licht an.

»Du bist auch komisch«, murmelte sie und schützte ihre Augen vor der Helligkeit. »Wo warst du so lange?«

»Auf dem Weihnachtsmarkt.«

»Mit Karo?«

»Nee. Mit einem wilden Kaninchen, das über mich hergefallen ist.«

Mira musterte ihn scheel, während sie damit beschäftigt war, die Spuren ihres Kalendereinbruchs zu beseitigen. »Hast du wieder Glühwein getrunken?«

»Ein bisschen?«

»Sieht man. Dein Mund ist ganz rot.«

Er berührte seine Lippen. Sie waren tatsächlich ein wenig entzündet. Aber das kam nicht vom Alkohol.

»Hast du heimlich Geschenke gekauft?«, fragte Mira.

»Nein. Aber ich habe eins bekommen. Ein ganz tolles.«

»Was denn?«

»Geheimnis«, sagte Leo zwinkernd.

»Aha ... von Karo?«

»Nein.«

»Was schenkst du ihr?«

»Weiß ich noch nicht ...«

In jedem Fall nichts, worüber sie sich freuen würde. Allerdings hatte er noch keine Idee, wie er es ihr sagen sollte, ohne ihre Welt in Fetzen zu reißen. Zudem konnte der Zeitpunkt nicht schlimmer sein. Jetzt, da sich der Todestag ihres Vaters zum fünften Mal jährte.

»Spiel ihr doch was vor. Sie hat dir immer gern zugehört.«

»Ich spiele nicht mehr, Mira.«

»Dann frag Kasimir, ob er eins deiner Stücke einübt. Er kommt auch zum Weihnachtsessen, oder?«

»Sehr wahrscheinlich«, erwiderte Leo schmunzelnd. Davon hatte er ihn wahrscheinlich auch ohne Worte überzeugt.

»Cool. Kann er ›Ich lass los‹ spielen? Von der Eiskönigin.«

»Ich kann ihn fragen.«

»Dann vertragt ihr euch wieder?«

»Wir haben uns nicht gestritten.«

»Aber du sahst immer traurig aus, wenn jemand seinen Namen gesagt hat. Jetzt nicht mehr.«

Sie wandte sich von ihrem Kalender ab und musterte ihn prüfend. Ihm war entgangen, wie scharfsinnig seine kleine Schwester war. Allerdings war es noch nicht an der Zeit, ihr zu erzählen, was seinen Stimmungswandel beeinflusst hatte. Denn sie war mindestens ein genauso großes Klatschmaul wie er selbst.

»Wenn du meinst. Aber erzähl's nicht Karo.«

»Warum nicht?«

Weil er alles, was ihm jetzt bevorstand, selbst in die Hand nehmen wollte. Karo hatte es nicht verdient, über Umwege zu erfahren, was ihn und seine Gefühle umtrieb. Er würde es ihr sagen – in Ruhe und wohl überlegt.

»Weil ich Mama sonst dein Geheimnis stecke. Und dann gibt's keine Weihnachtsgeschenke«, erwiderte er und nickte zum Kalender. Der Argwohn in Miras Gesicht wandelte sich augenblicklich in Verunsicherung.

»Das würdest du nicht tun.«

»Ganz sicher?«

Er bedachte sie mit dem verschwörerischen Blick eines Ordensbruders, der einem Neueinsteiger die Aufnahmeprüfung schmackhaft machen wollte. Zu seiner Genugtuung schien der Funke überzuspringen.

»Raus damit. Was soll ich machen?«

»Mir bei einer Sache behilflich sein«, sagte er und nickte zum Couchtisch, auf welchem sein Tablet lag. »Wir müssen zusammen eine Transaktion durchführen.«

»Eine Trans-was? Willst du, dass ich dir wieder irgendwas Seltsames bestelle?«

»So in der Art. Ich brauche dein Zahlenverständnis. Wenn ich mich verklicke, könnte es teuer werden.«

Mira verzog den Mund, doch das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Leo sie längst überzeugt hatte.

»Ein teures Weihnachtsgeschenk?«, hakte sie nach. Leo lächelte.

»Ein unbezahlbares.«

All Eyes On You [2]Where stories live. Discover now