68. Takt: All Eyes On You, pt. 1

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Es war stockfinster, als Kasimir sich samt Reisetasche durch die Eingangstür des Fitnessstudios schob. Die nächtlichen Minusgrade hatten die Windschutzscheiben der Autos mit einer Eisschicht überzogen, aber er war zum Glück nicht auf den familiären Chauffeurdienst angewiesen. Er würde sich einfach in den ersten Bus setzen und wegfahren. Fort von diesem bitterkalten Ort.

»Ziemlich frisch«, sagte Cecilie und verschränkte trotz ihres Cardigans die Arme vor dem Körper. »Würde mich nicht wundern, wenn es die Tage nochmal schneit. Ist ja inzwischen zur Seltenheit geworden. In Berlin bestimmt auch, oder?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Kasimir und fokussierte den Fahrplan seiner Linie auf dem Smartphone. Noch drei Minuten, dann hatte diese Farce ein Ende.

»Sicher, dass du dich nicht von Hildi verabschieden willst?«, meinte Cecilie und blickte hinauf zur Fensterzeile, hinter der sich ihr Schlafzimmer befand. »Tommy wird sich auch ganz schön vor den Kopf gestoßen fühlen ...«

»Lass sie schlafen. Die beiden hatten in den letzten Tagen genug Stress mit mir.«

»Ach was. Wir sind alle glücklich darüber, dass du heimgekommen bist. Hättest du nicht wenigstens einen Nachmittagszug nehmen können?«

Nein. Er hielt es keine Sekunde länger in dieser Stadt aus.

»Danke für eure Gastfreundschaft«, sagte er und nahm Cecilie in den Arm. Die Innigkeit ihres Griffs bedeutete ihm, dass sie seine verfrühte Abreise stärker betrübte, als sie sich anmerken lassen wollte.

»Quatsch nicht. Das ist dein Zuhause, Kasi. Du bist hier jederzeit Willkommen, also bitte lass nicht wieder so lange auf dich warten. Kommst du zu Tommys Geburtstag in drei Wochen?«

»Weiß ich noch nicht«, gab er zurück. Ihrem missmutigen Blick zufolge hatte sie die Wahrheit aus seiner Stimmlage herausgehört. Aber kurze, schmerzlose Abschiede hatten Cecilie nie zufriedengestellt.

»Du musst das nicht tun ... ein Kind kann auch glücklich sein, wenn es seinen Vater nicht jeden Tag sieht ...«

»Ich diskutiere nicht weiter darüber.«

»Kasi ...«

»Für dich wäre es auch nicht in Ordnung, wenn sich dein Mann mit einer anderen aus dem Staub macht und dich mit all der Verantwortung allein lässt.«

»Nein. Aber das wäre mir lieber, als zu wissen, dass er nur aus Pflichtbewusstsein bei mir bleibt.«

Kasimir zischte leise und wandte sich von ihr ab. Sie hatte leicht reden. Thomas war stolz auf seine Bilderbuchfamilie, er würde sie niemals für eine ›sexuelle Verwirrung‹ im Stich lassen. Es machte ihn fertig, dass er nach seinem zweitägigen Grübelmarathon inzwischen selbst davon ausging, dass Leonhard sich seine Gefühle für ihn nur einbildete. Aber im Grunde hatte Karoline recht. Leonhard hatte nie Interesse an Männern gezeigt und wünschte sich über kurz oder lang gewiss eine Familie. Auf die würde er an Kasimirs Seite verzichten müssen. Er wollte keine Kinder; brachte es kaum fertig, seinem Zwergkaninchen genug Aufmerksamkeit zuzugestehen. Aber das war eine Einstellung, die er nur für sich selbst vertreten konnte. Nicht gegenüber demjenigen, den er liebte.

»Mich wundert, dass sie es ihm noch nicht gesagt hat«, meinte Cecilie nachdenklich. »Normalerweise will man seine Freude oder Sorgen doch teilen, aber sie hat es anscheinend niemandem außer dir erzählt. Leo hat ein Recht darauf, es zu erfahren, immerhin beeinflusst das sein ganzes weiteres Leben. Aber vielleicht ist es auch gar nicht wahr? Was, wenn die Ultraschallaufnahme ein Fake war?«

»Dann hätte sie kein Druckmittel gegen mich«, erwiderte Kasimir knapp. »Schätze, sie hebt sich ihr Geständnis für den Fall auf, dass ich Widerstand leiste. Das Drama kann ich mir ersparen.«

Er sah seiner Schwester an, dass ihr seine Einschätzung nicht beliebte, aber was sollte er sagen? Dass er nicht die Kraft hatte, sich einem Kampf zu stellen, der von vornherein aussichtslos war? Karoline trat mit der stärksten Waffe in den Ring, die man sich vorstellen konnte. Es gab nichts, das die Tatsache zerstreute, dass sie für immer enger mit Leonhard verbunden sein würde als er. Auch wenn es wehtat.

»Dann gehst du jetzt einfach zu Erik zurück, ja?«, fragte Cecilie und sah ihm in die Augen. »Ist bestimmt toll für ihn, mit einem Partner zusammenzuleben, der ihn nicht liebt ...«

»Ist das dein verfluchtes Problem?«

»Jetzt sei nicht gleich gereizt. Ich will dir nur helfen.«

»Das hilft mir aber nicht, Cecilie. Kein Stück, hörst du?«

Verdammt. Er hatte gehofft, sich besser zurückhalten zu können, doch die verschmähten Empfindungen drängten allmählich hervor und ließen ihn innerlich glühen. Seine Emotionen sollten auf Minimalbetrieb laufen, doch sein Herz produzierte viel zu viel Leistung, sodass der Druck auf seinen Brustkorb immer unerträglicher wurde. Wo zur Hölle blieb dieser elende Bus?

»Du tust dir nur selber weh«, sagte Cecilie seufzend. »Ich glaube nicht, dass Leo sich gegen dich entscheiden würde.«

»Das weiß ich selbst.«

Und genau aus diesem Grund musste er es tun. Damit das Kind, das einmal Leonhards Gesichtszüge tragen würde, auch denjenigen kennenlernte, dem es sie verdankte. Anders als er.

Cecilie schien zu merken, dass er seine Grenze erreicht hatte und verzichtete auf einen weiteren Kommentar. Stattdessen trat sie noch einmal vor ihn und legte die Arme um seine Schultern.

»Ich möchte nicht, dass du unglücklich bist«, wisperte sie ihm ins Ohr. »Aber ich will dir auch keine Vorschriften machen. Alles, was du tust, liegt in deinem Ermessen. Ich hoffe, dass du einen Weg findest, auf dem du zurückblickend sagen kannst, dass alles okay war. Auch wenn er viele Kurven macht und du ab und an stolperst, manchmal musst du einfach weitergehen. Und irgendwann findest du das, was dich erfüllt. Daran hindert dich kein Stoppschild der Welt.«


🎵🎵🎵


Das Haltestellensymbol am Goldenen Reiter leuchtete auf, doch niemand äußerte einen Ausstiegswunsch. Natürlich nicht, bis auf ihn ließ sich keiner zwischen den Feiertagen um halb sechs Uhr morgens durch die Stadt kutschieren. Das belastete bestenfalls den Fahrer, Kasimir jedoch nicht. Er war froh, die bekannten Fassaden im trüben Licht der Straßenlaternen kaum erkennen zu können. Dazu trug nicht zuletzt seine Kurzsichtigkeit bei, jedenfalls bis die bestellte Brille in Berlin eintraf. Wenigstens dieses Andenken an Leonhard blieb ihm. Auch wenn er sich damit niemals im Spiegel sehen wollte.

Vom Königsufer aus hatte er zum letzten Mal freie Sicht auf die Altstadt. Die barocken Sandsteinmonumente leuchteten golden, besonders zur blauen Stunde ein beliebtes Fotomotiv. Selbst Kasimir wurde bei diesem Anblick schwer ums Herz und er ließ seinen Blick vom Zentrum entfernt am Ufer entlangwandern. Je weiter man sich vom Zwinger nach Osten entfernte, umso dunkler wurde das Panorama. Allein der ehemalige Erlweinspeicher stach im Zwielicht hervor. Wenn er sich nicht täuschte, beherbergte er mittlerweile eines der nobelsten Hotels der Stadt.


»Ich bin noch ein paar Tage hier. Ich wohne im Maritim, direkt an der Elbe.

Du kannst jederzeit dorthin kommen, wenn dir danach ist.«


Kasimir musterte die Silhouette des Gebäudes. Als es hinter den Fassaden der St.-Petersburger Straße verschwand, zog er sein Smartphone aus der Tasche und googelte nach der heutigen Bezeichnung des Speichers. Dann fokussierte er die Haltestellenanzeige, griff nach seiner Tasche und drückte den roten Knopf zum Anhalten. Als sich die Tür öffnete, stieg er hinaus in die frierende Kälte, lief zur nächsten Ampel und klemmte sich sein Handy zwischen Ohr und Schulter. Als das Fußgängersymbol auf grün umsprang, nahm jemand am anderen Ende der Leitung seinen Anruf entgegen.

»Maritim Hotel Dresden, schönen guten ...«

»Ich bin in zehn Minuten an Ihrer Rezeption«, sagte Kasimir. »Können Sie bitte einen Gast für mich wecken?«

All Eyes On You [2]Where stories live. Discover now